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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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unnötigerweise wie eine Süßigkeit in den Mund steckten und an mir
lutschten, Kinder, die mich unter ihre Nasenlöcher hielten und berochen, und
Greise, die mit einem Bein im Grab standen, doch keine Ruhe fanden, ehe sie
mich nicht siebenmal am Tag aus ihrem Lederbeutel hervorgeholt und beäugt
hatten. Da war ein pingeliges Tscherkessenweib, das den ganzen Tag im Haus
wischte und putzte, uns anschließend aus der Geldkatze holte und mit der
Wurzelbürste schrubbte. Ein einäugiger Geldwechsler stapelte uns ständig zu
Türmen auf, ein nach Geißblatt duftender Lastenträger betrachtete uns gemeinsam
mit seiner Familie wie eine schöne Landschaft, und ein hier nicht anwesender
Illuminator – der Name tut nichts zur Sache – reihte uns abends ununterbrochen
in verschiedenen Anordnungen auf. Ich fuhr in Booten aus Mahagoni, ging im
Saray ein und aus, verbarg mich in ledernen Einbänden Herater Machart, in den
Absätzen rosenduftender Schuhe und unter Satteldecken. Hunderte von Händen
sah ich, schmutzige, behaarte, dralle, fettige, zitternde und greise. Die
Versammlungen der Opiumraucher, die Wachsfabriken, getrocknete Makrelen und der
Schweiß von ganz Istanbul hinterließen ihre Duftspuren auf mir. Als aber nach
all der Aufregung und meinem bewegten Tageslauf der ruchlose Straßenräuber in
finsterer Nacht seinem Opfer die Kehle aufschlitzte, mich in seinen Beutel
warf, in seinem verfluchten Haus »Pfui Teufel, alles nur deinetwegen!« sagte
und mich bespuckte, war ich so tief verletzt, daß ich am liebsten verschwinden
wollte!
    Aber wenn ich nicht bin, kann
niemand den guten von dem schlechten Illustrator unterscheiden, und weil sich
die Buchmaler deshalb befehden werden, bin ich nicht verschwunden, sondern in
den Geldbeutel des größten Könners und klügsten der Buchmaler geschlüpft und
hierhergekommen.
    Erwerbt mich, wenn ihr besser seid
als er.

20
  Mein Name ist Kara
    Wieviel weiß Şeküres Vater von den
Briefen, die wir einander zugesandt haben? Hätte ich dem Ton des scheuen,
seinen Vater fürchtenden Mädchens in Şeküres Briefen Glauben geschenkt,
hätte ich zu dem Schluß kommen müssen, daß zwischen ihnen niemals auch nur ein
Wort über mich gefallen ist, doch meine Ahnung sagte mir das Gegenteil. Der
schlaue Blick von Ester, der Hausiererin, das zauberische Erscheinen Şeküres
am Fenster, der energische Befehl des Oheims, mich zu den Buchmalern zu
begeben, und seine für mich spürbare Verzweiflung, als er mich für heute morgen
zu sich rief, all das beunruhigte mich.
    Kaum war ich seiner Aufforderung
gefolgt, mich vor ihm niederzulassen, da begann er bereits über die Porträts
zu sprechen, die er in Venedig gesehen hatte. In seiner Eigenschaft als
Gesandter unseres Padischahs, des Schirmherrn der Welt, sei er in vielen
Palästen, vornehmen Häusern und Kirchen ein und aus gegangen. Er habe tagelang
vor Tausenden von Porträts gestanden, habe Tausende auf die gespannte Leinwand,
auf Holz, in Rahmen gefaßte und auf Wände gemalte Gesichter gesehen. »Lauter einzelne,
gänzlich verschiedene, unvergleichbare Gesichter von Menschen!« sagte er.
Trunken sei er gewesen von ihrer Verschiedenheit, ihren Farben, von der
Weichheit und Freundlichkeit, ja selbst der Härte des Lichtes, das auf sie
fiel, und von dem, was die Augen sagten.
    »Alle ließen ihr Porträt malen – als
wäre es eine ansteckende Krankheit«, sagte er. »Ganz Venedig. Die Geld und
Macht besaßen, ließen ihr Porträt als Zeugnis ihres Daseins, als eine
Erinnerung anfertigen, wie auch als Zeichen ihres Reichtums, ihrer Stärke und
Autorität. Um darauf zu verweisen, daß sie sich von jedem anderen
unterscheiden, immer präsent sind, uns gegenüberstehen, und um einander von
ihrem Dasein zu künden.«
    Seine Worte waren abfällig, als rede
er aus Neid, Gier und Habsucht, doch sein Gesicht war für Augenblicke wie das
eines Kindes von Licht und Leben erfüllt, während er die Porträts schilderte,
die er in Venedig gesehen hatte.
    Der Wunsch, ihre Gesichter bei jeder
Gelegenheit abzubilden, habe sich unter den Gönnern der Malerei, unter den
Reichen, den Fürsten und großen Familien in eine solche Epidemie verwandelt,
daß es diese Ungläubigen sogar bei den Wandmalereien in den Kirchen zur
Bedingung machten, ihr eigenes Gesicht müsse in Szenen aus der Bibel und aus
frommen Legenden eingefügt werden: Man betrachtete zum Beispiel ein Bild von
der Grablegung des heiligen Stephan, und siehe da, unter den Weinenden am Rand
des

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