Pandaemonia 01 - Der letzte Traumwanderer
du jetzt, was ich meine?«, fragte Lady Sarka sanft.
Jackon blickte sie hilflos an. »Aber was ist daran so nützlich? Es sind doch nur Träume.«
»Träume haben Macht. Träume prägen unsere Gedanken und Wünsche, sie bestimmen, ob wir glücklich sind oder nicht. Wer die Träume beherrscht, beherrscht auch die Menschen.«
»Und ich … kann all das?«
»Nein. Noch nicht. Aber mit meiner Hilfe wirst du es lernen.«
Es dauerte eine Weile, bis er begriff, was ihre Worte bedeuteten. »Ich soll hierbleiben? Bei Euch?«
»Wäre das so schlimm?«, fragte sie behutsam. »Du würdest eine eigene Kammer bekommen, so schön wie die bei Wellcott und Kendrick, mit einem Bett und einem Schrank voller Kleider. Wenn du krank wirst, kümmert sich mein Arzt um dich. Und es gibt genug zu essen, jeden Tag. Nie wieder müsstest du betteln und stehlen gehen oder Unrat aus der Kloake fischen.«
Er gab keine Antwort. Er war kaum noch in der Lage, klar zu denken.
»Im Gegenzug dienst du mir mit deinen Kräften, so wie Corvas und Umbra«, fuhr Lady Sarka fort. »Ich bilde dich aus, bis du so mächtig bist wie sie. Aber ich werde dich nicht dazu zwingen. Du sollst dich aus freien Stücken dazu entscheiden.«
»Und wenn ich nicht will?«, fragte er vorsichtig.
»Lasse ich dich auf der Stelle gehen, und du kannst noch heute in die Kanäle zurückkehren. Doch was erwartet dich dort? Ein Dasein in Hunger und Schmutz. Vogelfreie und Mörder, die dich hassen. Menschenf ressende Ghule und die Cholera. Die Aussicht auf einen frühen Tod. Ziehst du das wirklich einem Leben in meinen Diensten vor?«
Noch in der Kutsche hätte er diese Frage prompt mit Ja beantwortet, aber jetzt war er sich auf einmal nicht mehr so sicher. Er dachte an die vergangenen neunzehn Tage, an die Behaglichkeit des Hauses, das bequeme Bett und das gute Essen. Er hatte angefangen, sich daran zu gewöhnen, trotz der quälenden Langeweile und der Tatsache, dass das Haus letztlich ein Gefängnis gewesen war. Er wusste, wenn er wirklich in die Kanäle zurückkehrte, würde er sich jede Nacht, wenn er auf seinen Strohsäcken lag, und jedes Mal, wenn er steinhartes Brot kaute, daran erinnern, was er aufgegeben hatte.
Wenn er sich nur nicht so sehr vor alldem fürchten würde, vor dem Palast mit seinen menschenleeren Fluren, vor Corvas, den Spiegelmännern und vor Lady Sarka selbst …
»Was ist schon ein bisschen Angst?«, fragte die Lady, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Angst vergeht. Denk daran, was du gewinnst: ein Leben, wie du es dir immer erträumt hast.« Ihre Stimme wurde leise und eindringlich, und ihm war, als erklinge sie im Innern seines Kopfes, wo sie all seine Gedanken übertönte. »Also, Jackon - willst du mir dienen? Willst du so mächtig werden wie Corvas?«
Jackon schluckte. In seinem Kopf drehte sich alles. »Ja«, hörte er sich schließlich sagen. »Ich will Euch dienen, so gut ich kann.«
Über der Kuppel krächzte eine Krähe, und es klang wie Triumphgeschrei.
5
Spiegelmänner
D as Knarren einer Tür weckte Liam. Verschlafen wälzte er sich herum und zog den Vorhang auf. Draußen war es bereits hell und das Viertel längst erwacht. Stimmen und das Klappern, Hämmern und Sägen der Werkstätten Scotias klangen zur Sternwarte herauf.
Normalerweise schlief Liam nicht so lang. Wegen des Gewitters war er jedoch erst spät ins Bett gekommen. Inzwischen blitzte und donnerte es nicht mehr: Der Himmel über Bradost war blau und versprach einen weiteren heißen Tag. Die Morgenluft roch dank des Regens sauber und frisch.
Als er Geräusche aus dem Eingangsraum hörte, schlüpfte er hastig in Hose und Hemd und öffnete die Tür seiner Kammer. »Vater?«
Fellyn Satander stand hinter dem Tisch und wühlte in den Papieren. Anders als Liam hatte er dunkles Haar; es wirkte ungekämmt und fettig. Bartstoppeln bedeckten seine Wangen, seine Kleidung war zerknittert. Er blickte seinen Sohn aus müden Augen an. »Morgen, Liam«, murmelte er und setzte seine Suche fort.
»Bist du etwa jetzt erst nach Hause gekommen?«
»Ja. Hatte zu tun.«
»Was denn?«
»Dies und das.«
»Und das Gewitter?«, fragte Liam.
»Oh«, meinte sein Vater geistesabwesend. »War recht heftig, was?«
»Recht heftig? Es war das beste seit Monaten! Wie konntest du dir das nur entgehen lassen?«
»Du brauchst mich doch nicht mehr dafür. Du bist längst ein viel besserer Blitzhändler, als ich es jemals war.«
Die Gleichgültigkeit seines Vaters war nichts Ungewohntes
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