Pandaemonia 01 - Der letzte Traumwanderer
Kistenstapel verschwunden. Sie fanden sich im großen Saal des Albenpalastes wieder.
Lucien blickte zu den Galerien auf, wo sich bei seinem vorletzten Besuch hunderte von Alben gedrängt hatten. Die Säulen verloren sich im Zwielicht, und die Stille, die in dem gewaltigen Gebäude herrschte, wirkte gespenstisch.
»Was tun wir hier?«
»Ich will mir Lady Sarkas Träume ansehen.« Aziel ging zur Treppe, die zu den Emporen führte.
Lautloser Wind strich durch die Korridore. Während Lucien dem älteren Alb durch die Hallen und Flure folgte, fiel ihm auf, dass sich der Palast seit dem Zweikampf verändert hatte. Säulen und Pfeiler bekamen Risse. Bodenplatten waren gesprungen. Wände begannen zu bröckeln.
Der Palast des Albenherrschers verfiel. Aziel bot all seine Kräfte auf, um die Träume zu kontrollieren, aber offenkundig gelang es ihm nicht, die Schäden, die überall entstanden, einzudämmen oder gar zu beheben. Selbst ein alter und machtvoller Alb wie er war dieser Aufgabe ohne die Hilfe seines Volkes nicht gewachsen.
»Alles verkommt«, sagte Aziel düster, als hätte er Luciens Gedanken gelesen. »Ich schaffe es gerade noch, die Seelenhäuser vor dem Verfall zu bewahren, doch ich werde von Tag zu Tag schwächer. Dort draußen könnten die schrecklichsten Dinge geschehen, und ich würde es nicht einmal bemerken. Geschweige denn, dass ich etwas dagegen tun könnte. Was,
wenn die Träume außer Kontrolle geraten? Was dann, Lucien?«
Diese Frage war so groß, so bedrohlich, dass Lucien es stets vermieden hatte, darüber nachzudenken. Er schwieg bedrückt.
Sie stiegen die Wendeltreppe zum höchsten Turm des Palastes hinauf. Unter dem Kuppeldach, hoch über den Zinnen, befand sich ein kreisrunder Raum. Lucien trat an eines der Spitzbogenfenster und betrachtete die Stadt, die sich um den Palast ausbreitete.
Sie war so gewaltig, dass nicht einmal Lucien mit seinen scharfen Augen ausmachen konnte, wo sie endete. Abermillionen von Seelenhäusern drängten sich aneinander, bedeckten die Ebene bis zum Horizont. Ewiges Zwielicht herrschte in den Gassen, ein Schleier aus Silberstaub lag über den Dächern. Die Luft unter dem nachtblauen Firmament war erfüllt vom unaufhörlichen Wispern und Raunen der Träume. Sammler krochen durch die Straßen und holten verbrauchte Traumsubstanz aus den Seelenhäusern. Geflügelte Boten brachten frische, die sie in den Höhlen unter dem Palast ernteten und in Form tropfenförmiger Blasen in die Kamine fallen ließen. Sowohl die schwammähnlichen Sammler als auch die insektenartigen Boten waren geistlose Kreaturen; sie folgten Abläufen, die seit Jahrtausenden feststanden, weswegen sie noch nicht bemerkt hatten, dass es keine Alben mehr gab. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis sie begriffen, dass niemand mehr auf sie aufpasste und sie tun und lassen konnten, was ihnen gefiel. Lucien wagte nicht, sich das Chaos vorzustellen, das unweigerlich die Folge sein würde.
»Hast du noch Kraft für einen Sprung?«, fragte Aziel.
»Ja. Aber ich fürchte, ohne deine Hilfe finde ich das Seelenhaus der Lady nicht.«
»Früher hast du es doch auch gekonnt.«
»Ich bin aus der Übung.«
»Gib mir deine Hand«, knurrte Aziel unwirsch.
Sie landeten irgendwo in der Stadt. Lucien blinzelte benommen, als er Aziels Hand losließ. Er war an all das nicht mehr gewöhnt.
Gebäude säumten die Straße, große und kleine, prächtige und schäbige, je nachdem, wie die Seelen, die sie beherbergten, beschaffen waren. Verkümmerte Seelen hausten in Hütten, während sich sehr intelligente, willensstarke oder phantasiebegabte Schlösser und Prachtbauten schufen, in denen sie sich ihren Träumen hingaben, um sich von den Mühen des Tages zu erholen.
Lady Sarkas Seelenhaus glich einem dunklen Ebenbild ihres Palastes in Bradost. Es überragte sämtliche Gebäude weit und breit.
Aziel ging zu einem kleineren Haus in der Nähe.
»Was machst du da?«, rief Lucien.
»Etwas in Ordnung bringen.«
Die Fenster des Gebäudes waren dunkel, denn es enthielt gerade keine Seele und folglich auch keine Träume. Die Wände und das Dach wiesen Risse auf. Aziel legte seine Hand auf die Tür, woraufhin die Schäden verschwanden.
»Gehen wir«, sagte er.
Eins kann er wiederherstellen , dachte Lucien. Aber was ist mit den unzähligen anderen, die gerade zerfallen?
Sie folgten dem Pfad, der den Hügel zu Lady Sarkas Seelenhaus hinaufführte. Seltsame, gekrümmte Pflanzen wuchsen auf den Hängen. Lucien konnte sich
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