Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
befanden sie sich mehrere tausend Fuß über dem Erdboden. Der Anblick, der sich ihm darbot, war atemberaubend. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er, wie riesig Bradost wirklich war. Die Metropole breitete sich von der Küste zu beiden Seiten des Rodis über die Ebene aus, ein viele Meilen durchmessender Flickenteppich aus Straßen, Plätzen, Kanälen, Gärten und Häuserblocks, verschleiert vom Rauch aus zehntausend Kaminen.
Aber mehr noch beeindruckte ihn das, was sich jenseits der Stadtgrenzen befand: eine Landschaft, die fremdartiger war als alles, was er je gesehen hatte. Er kannte die richtigen Worte für die Dinge, die er erblickte, aber da er sie so gut wie nie gebrauchte, fielen sie ihm erst nach und nach ein. Plantagen , dachte er. Wiesen. Wälder. Hügel.
Hügel … Im Norden von Bradost erstreckte sich Karst, ein weites Land aus Schluchten und Felsgraten, karg und unbewohnt. Und im Süden das Meer: glitzernd wie ein Spiegel aus Saphir und so unermesslich groß, dass es bis zum Horizont reichte. Mit einem Kloß im Hals ließ Jackon seinen Blick über die endlosen Wellenkämme schweifen und dachte, wie arm sein Leben bis jetzt gewesen war. Es gab eine Welt außerhalb der Kanäle und Straßen Bradosts, und sie war wunderbarer, als er sich je hätte träumen lassen.
»Zitteranemonen auf Steuerbord!«, brüllte in diesem Moment der Beobachter. Koner Maer gab seinen Steuermännern einen Befehl, und die Luftschrauben heulten auf, als die Phönix den Kurs änderte und Richtung Meer beidrehte.
»Was ist los? Was ist los?«, fragte Jackon und sprang auf.
»Warte. Gleich siehst du es«, erwiderte Lady Sarka.
Eine seltsame Wolke erschien am Himmel und kam rasch näher … nein, keine Wolke, ein Schwarm exotischer Tiere. Ihr durchscheinender Schirm pulsierte rot, orange und violett, der Schweif aus Tentakeln wogte seltsam körperlos in den Luftströmungen, umspielt von winzigen Blitzentladungen, während sie an der Phönix vorbeischwebten. Bald war das Luftschiff von Hunderten dieser Geschöpfe umgeben, und das vielfarbige Glühen, das sie wie eine überirdische Aura umfing, erfüllte die Brücke.
»Sind sie nicht wunderschön?«, fragte Lady Sarka leise.
»Ja«, flüsterte Jackon.
Sie lächelte und ergriff seine Hand, und plötzlich war er so glücklich, dass er alles für sie getan hätte, alles.
Umbra saß im Salon und blätterte gerade in einer Zeitung, als Cedric hereinkam.
»Die Herrin ist zurück«, sagte der Diener. »Sie möchte Euch sprechen.«
»Heute ist mein freier Tag. Hat sie das vergessen?«
»Sie sagt, es sei wichtig.«
Seufzend legte Umbra die Zeitung hin und stand auf. »Ist sie in ihren Gemächern?«
Cedric nickte. »In der Bibliothek.«
Es war bereits zu dunkel für ein Schattentor. Müde machte sie sich auf den Weg.
Auf der Treppe stürzte ihr ein aufgeregter Jackon entgegen.
»Umbra!«, sprudelte es aus ihm heraus. »Ich muss dir etwas erzählen! Wir sind mit dem Luftschiff geflogen! Mit der Phönix ! Und weißt du, was wir gesehen haben? Zitteranemonen! Ein ganzer Schwarm! Sie haben …«
Umbra bekam schlagartig Kopfschmerzen. »Stopp«, sagte sie unwirsch. »Nicht jetzt. Ich muss zur Herrin.«
»Sehen wir uns später? Es war großartig! Ich muss dir unbedingt alles erzählen.«
»Wenn es sich nicht vermeiden lässt«, seufzte Umbra und ließ ihn stehen.
Lady Sarka stand mit verschränkten Armen an einem Fenster der Bibliothek und warf einen flüchtigen Blick über die Schulter, als sie Umbra hereinkommen hörte.
»Ihr wolltet mich sprechen, Herrin?«
In Gedanken versunken betrachtete Lady Sarka die abendliche Stadt. »Welchen Eindruck hast du von Jackon?«, fragte sie nach einer Weile.
»Was meint Ihr?«
»Die Art, wie er sich entwickelt. Wie seine Kräfte wachsen und Teil von ihm werden.«
»Er scheint auf einem guten Weg zu sein«, sagte Umbra. »Er wird immer selbstbewusster und scheint allmählich zu lernen, mit seinen Kräften umzugehen.«
»Er hat große Fortschritte gemacht. Ich glaube, er ist jetzt so weit.«
»Wofür?«
»Aziel herauszufordern.«
Umbra wählte ihre nächsten Worte mit Bedacht. »Es wäre gefährlich, etwas zu überstürzen.«
»Ich weiß«, erwiderte Lady Sarka scharf. »Aber ich kann nicht länger warten. Ich warte schon zu lange.«
»Gebt ihm mehr Zeit. Nur ein paar Wochen. Damit er seine Kräfte festigen kann.«
»In ein paar Wochen hat sich Aziel vielleicht von seiner Niederlage erholt.«
Umbra konnte spüren, wie die
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