Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
noch eine dunkle Sonnenbrille auf, damit er, soweit es ging, von der Außenwelt abgeschirmt war.
Kerem Ükül, der Besitzer des kleinen Lebensmittelladens, war nicht sehr verwundert darüber, dass Sigmund Witter an einem regnerischen, grauen Tag sein Geschäft betrat und dabei eine Sonnenbrille auf der Nase trug. Er schaute nur etwas länger als sonst in Witters Gesicht, weil ihm das hässliche und offensichtlich billige Plastikding aus dem Drogeriemarkt, das dem Alten außerdem viel zu groß war und etwas schräg auf der Nase saß, geradezu ins Auge sprang. Ükül hatte es aufgegeben, sich allzu viele Gedanken über seine Kunden zu machen – über das, was sie sagten oder auch nicht sagten, oder darüber, wie sie in seinem Laden auftauchten. Berlin war eine Stadt voller Freaks, und da war eine Sonnenbrille an einem Regentag nichts Außergewöhnliches.
Witter kaufte insgesamt zwölf Dosen – sechs Büchsen mit Bohnen sowie jeweils drei Konserven mit zarten Heringsfilets in Tomatensauce und mit Fruchtsalat –, die Kerem Ükül zusammen mit einer Packung Milch und vier Flaschen Mineralwasser in zwei große Papiertüten steckte. Als Witter aus dem Geschäft trat, peitschte ihm eine Windböe ins Gesicht, und es begann zu regnen. Er wollte nicht völlig durchnässt zu Hause ankommen, und deshalb beeilte er sich.
Auf dem Weg zurück lief ihm eine Gruppe laut gackernder Teenager unter bunten Schirmen entgegen. Er senkte den Kopf und starrte aus Angst, rückfällig zu werden, auf den nassen Asphalt, damit er die Wolken über ihren Köpfen nicht sah. Als er den Kopf wieder hob, war die Gruppe bereits an ihm vorbeigegangen. Sein Blick fiel auf eine schwarze, elegante Limousine auf dem kleinen Parkplatz vor dem Plattenbau. Er stutzte kurz, weil sich so ein Fahrzeug in der Regel nicht dorthin verirrte. Solche Kisten standen normalerweise nur vor Villen im Nobel-Stadtteil Grunewald oder fielen in Kreuzberg als ausgebrannte Wracks auf, wenn sie den traditionellen Mai-Krawallen linksautonomer Straßenkämpfer zum Opfer gefallen waren. Vielleicht irgend so ein beschissener Investmentheini, der die heruntergekommene Asbestbude kaufen will , dachte der alte Mann und beschleunigte seine Schritte. Der Regen hatte an Heftigkeit zugenommen.
Als er schließlich die Haustür erreichte, waren seine Klamotten pitschnass – und die Papiertüten ebenfalls. Er trug sie fest unter den Arm geklemmt, ansonsten wären sie längst gerissen und ihr Inhalt auf den Boden gepurzelt. Mühsam winkelte er nun sein rechtes Knie an und setzte eine Papiertüte darauf ab, damit er die Hand frei hatte, um den Schlüssel aus der Tasche seines Mantels zu fischen und die Eingangstür aufzuschließen.
Im Hausflur musste Sigmund Witter nicht lange auf den Aufzug warten, der sich in einem der unteren Stockwerke befand. Er trat hinein, drückte den Knopf für die zweiundzwanzigste Etage, und die Türen schlossen sich mit einem laut quietschenden Geräusch. Das Ruckeln und Rumpeln des Fahrstuhls, als er sich nach oben in Bewegung setzte, machte keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck, aber Witter war daran schon gewohnt und machte sich deswegen keine Sorgen. Was ihn vielmehr störte, waren die Graffitis an den Wänden des Fahrstuhls. Nicht nur dort, sondern überall im ganzen Haus gab es sie. Seiner Beamtenseele liefen die nicht genehmigten Schmierereien zuwider, und er empfand sie schlicht als Vandalismus. Obwohl er zugeben musste, dass ihn die Sprüche zuweilen amüsierten und sich Graffitis – wenn auch nur wenige – darunter befanden, die künstlerisch anspruchsvoll waren. Wer weiß, vielleicht wohnt hier im Haus ein zweiter Keith Haring, dachte er beim Betrachten der wilden Bildkomposition aus Buchstaben, Zahlen, Symbolen, Farben und Mustern, die ein Sprayer auf dem deckenhohen Spiegel im Aufzug hinterlassen hatte.
Während er in der kleinen Lache stand, die das von ihm abtropfende Regenwasser rund um seine Schuhe gebildet hatte, und auf die Stockwerkanzeige starrte, begann plötzlich das Licht über ihm zu flackern. Auch das war im Grunde nichts Ungewöhnliches. Ständig war in diesem Gebäude irgendetwas kaputt, und Sigmund Witter hatte es mittlerweile aufgegeben, sich über diesen faulen Sack von Hausmeister aufzuregen, der sich einen Scheißdreck um Reparaturen kümmerte. Schließlich ging das Licht jedoch ganz aus.
»Verdammte Scheiße«, fluchte Witter vor sich hin und trat mit einem Fuß gegen die Innenkabine, so als könnte das
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