Pandemonium
denken, wie ich mit Alex über den Grenzzaun geklettert bin. Ich ersetze die Erinnerung schnell durch ein anderes Bild: Ich klettere in die belaubten Zweige eines der großen Ahornbäume im Deering Oaks Park. Hanas blonde Haare blitzen unter den verschiedenen Schichten aus Grün auf; sie umkreist lachend den Stamm und feuert mich an, höher zu klettern.
Aber dann muss ich auch sie aus meiner Erinnerung vertreiben. Das habe ich hier in der Wildnis gelernt. Ich schneide sie heraus – ihre Stimme, ihre leuchtenden Haare – und behalte nur das Gefühl der Höhe, die schwankenden Zweige, das grüne Gras unter mir.
»Dann wird’s Zeit, dass ich dir die Nester zeige«, sagt Hunter.
Ich bin nicht scharf darauf, rauszugehen. Letzte Nacht war es bitterkalt. Der Wind heulte durch die Bäume, wehte die Treppe herab und bohrte mit langen eisigen Fingern in allen Ritzen und Spalten unseres Unterschlupfs. Heute Morgen bin ich halb erfroren vom Laufen zurückgekommen, meine Finger waren taub, steif und zu nichts zu gebrauchen. Aber ich bin neugierig auf die Nester – ich habe das Wort schon von den anderen Siedlern gehört – und ich will gerne von Blue weg.
»Kannst du das hier allein fertig machen?«, frage ich sie. Blue nickt und beißt sich auf die Unterlippe. Das hat Grace auch immer gemacht, wenn sie nervös war. Ich habe Schuldgefühle. Schließlich kann Blue nichts dafür, dass sie mich an Grace erinnert.
Blue kann nichts dafür, dass ich Grace zurückgelassen habe.
»Danke, Blue«, sage ich und lege ihr eine Hand auf die Schulter. Sie zuckt leicht zusammen.
Die Kälte ist eine Mauer. Ich habe im Kleiderlager eine alte Windjacke gefunden, aber sie ist mir viel zu groß und hindert den Wind nicht daran, an meinem Hals und meinen Fingern zu nagen, mir in den Kragen zu kriechen und das Herz in meiner Brust zum Erfrieren zu bringen. Der Boden ist gefroren und das vom Frost überzogene Gras knirscht unter unseren Füßen. Wir gehen schnell, damit uns warm wird. Unser Atem bildet Wolken.
»Wieso magst du Blue nicht?«, fragt Hunter unvermittelt.
»Ich mag sie«, sage ich schnell. »Ich meine, sie redet zwar kaum mit mir, aber …« Ich breche ab. »Ist das so offensichtlich?«
Er lacht. »Das heißt, du magst sie wirklich nicht.«
»Sie erinnert mich nur an jemanden, das ist alles«, sage ich barsch und Hunter wird ernst.
»Von früher?«, fragt er.
Ich nicke und er streckt den Arm aus und berührt mich kurz sanft am Ellbogen, um mir zu sagen, dass er mich versteht. Mit Hunter rede ich über alles außer das Vorher. Von allen Siedlern ist er derjenige, dem ich am nächsten stehe. Wir sitzen beim Abendessen nebeneinander, und manchmal bleiben wir anschließend noch auf und reden, bis der Raum vom Rauch des erlöschenden Feuers ganz trüb wird.
Hunter bringt mich zum Lachen, obwohl ich lange Zeit dachte, ich würde nie wieder lachen.
Es hat lange gedauert, bis ich angefangen habe, mich in seiner Nähe wohlzufühlen. Es war schwierig, all das abzuschütteln, was ich auf der anderen Seite, in Portland, gelernt hatte. Warnungen, die mir von allen, die ich bewunderte und denen ich vertraute, eingebläut worden waren. Die Krankheit, haben sie mir beigebracht, würde in dem Raum zwischen Männern und Frauen, Jungen und Mädchen wachsen; sie würde durch Blicke, Lächeln und Berührungen übertragen und würde sich in den Menschen einnisten wie ein Pilz, der einen Baum von innen zerstört.
Aber Hunter ist ein Freund, nichts weiter, und ich habe keine Angst, wenn ich mit ihm zusammen bin.
Jetzt gehen wir Richtung Norden. Es ist früh und es ist ruhig im Wald, abgesehen vom Knirschen unserer Schuhe auf der dicken Schicht aus welken Blättern. Es hat wochenlang nicht geregnet. Die Natur braucht dringend Wasser. Eigenartig, wie ich gelernt habe, den Wald zu spüren, ihn zu verstehen – seine Launen und Wutanfälle, seine Farb- und Freudenausbrüche. Er ist so anders als die Parks und die sorgfältig gepflegten Grünflächen in Portland. Diese Orte waren wie Zootiere: eingesperrt und irgendwie glatt. Die Wildnis ist lebendig, temperamentvoll und schön. Trotz der Widrigkeiten hier mag ich sie immer lieber.
»Wir sind fast da«, sagt Hunter. Er macht eine Kopfbewegung nach links. Jenseits der kahlen Äste kann ich eine Krone aus Stacheldraht oben auf einem Zaun sehen und ich habe plötzlich schreckliche Angst. Mir war nicht klar, dass wir der Grenze so nah kommen würden. Auf der anderen Seite beginnen offenbar die
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