Pandoras Kuss
bis zur letzten Sekunde zäh um jeden Zentimeter Vorsprung kämpfen.
Trotzdem machte Paco das Rennen.
Im letzten Moment schoss er an Persephones Stute vorbei als erster zwischen die Bäume und galoppierte mit wehendem Schwanz und angelegten Ohren den schmalen Waldweg hinab.
Das Waldstück wechselte in eine sumpfige Wiese über. Der Weg wurde wieder breiter. Ich sah dennoch keinen Grund Paco zu zügeln. Und er selbst sah auch keinen Grund auch nur einen halben Zacken Geschwindigkeit zurück zu nehmen. Er wollte laufen, er liebte das Rennen – und er vertraute mir.
Vor uns tauchte plötzlich ein alter Drahtzaun auf, der quer über die sumpfige Wiese verlief. Paco stürmte sturköpfig darauf zu.
Oh Gott … !
Erst im allerletzten Moment nahm Paco etwas Geschwindigkeit zurück … stieg … und sprang.
Geschafft!
Ich war so irre glücklich, das gehörte verboten.
Trotzdem nahm ich schließlich den Hengst zurück und ließ ihn nur noch in einem leichten Trab laufen.
Persephone tat es mir nach.
Wir waren beide verschwitzt und außer Atem.
Aber wir waren beide auf unsere Art glücklich.
Herrgott, dachte ich, wer wäre je auf die Idee gekommen, dass ich ihr irgendwann mal aus vollen Herzen und ganzer Seele für irgendeinen ihrer blöden Ausflüge dankbar wäre?
„Folgen Sie mir , Pandora!“, rief die dunkle Fee und setzte in schnellem Trab an Paco vorbei, über die Wiese hinweg in Richtung eines Geländes, das mit seinen vereinzelten alten Bäumen und überwachsenen Wegen wie ein verwilderter Park wirkte. Und in dem verwilderten Park stand doch wirklich und wahrhaftig ein Märchenschloss.
Okay , es war kein wirklich richtiges Märchenschloss, sondern ein großes, altes Landhaus. Aber so einsam und versteckt, zwischen den Wiesen und Waldstücken und fernab jeder Straße, wirkte es wie ein Märchenschloss.
Es war zweistöckig, hatte einen von vier Säulen getragenen Portiko und außerdem zwei orientalisch anmutende Türmchen. Es sah anders aus, als jedes andere alte Haus, das ich in dieser Gegend bislang gesehen hatte. Die Fensterläden waren verschlossen und kein Mensch trat heraus als sich das Hufgetrappel unserer Pferde näherte. Schien als war keiner zu hause.
Wir zügelten die Pferde an einem kleinen Seerosenteich bei dem Haus. Und stiegen ab.
P ersephone versicherte, sie würden nicht davon laufen. Und der Tag war warm genug, dass sie trotz des scharfen Rittes nicht abgerieben werden mussten.
Sie hatte einen Schlüssel für das Schloss.
„Kommen Sie, Pandora. Dieses Haus haben noch nicht viele Leute von innen gesehen.“
Schwester Marie – Claire flüsterte mir zu , mich sofort auf Paco zu schwingen und auf Teufel komm heraus von hier zu verschwinden.
Ausnahmsweise war ich gar nicht mal so sicher, ob sie damit nicht Recht hatte. Mir kamen da so seltsame Vorahnungen. Obwohl ich mir zugleich dennoch sicher war, nicht in wirklicher Gefahr zu schweben.
Was immer dort drin auf uns wartete , schien eher Persephone zu betreffen, als mich.
Die Frage war nur, ob ich wirklich bereit war zu erfahren, was immer es in dem Haus vielleicht zu erfahren gab.
Persephone sah aus dem halbdunklen Inneren des Hauses zu mir heraus, die ich immer noch einige Schritte von der Schwelle entfernt , unter dem Portikus stand.
„Angst? Bin ich es? Oder ist es das Haus?“
Vielleicht ja beides, dachte ich. Aber folgte ihr dennoch ins Innere.
40 .
Persephone hatte eines der Fenster geöffnet und die Läden zur Seite geklappt.
Im Innern des Hauses zeigten sich noch mehr orientalische Elemente. Boden und Wände der Halle waren mit roten und blauen Mosaiken ausgelegt, deren feingliedrige Muster an den Schmuck von Moscheen erinnerten.
Und ü ber einem riesigen Kamin hing das Porträt einer jungen Frau. Sie trug ein Abendkleid, das aussah als sei es Ende des vorletzten Jahrhunderts in gewesen. Sie hatte etwas Exotisches an sich, sowohl in ihrer Haltung als auch im Schnitt ihres Gesichtes. In etwas anderen Kleidern hätte sie eine Maurin oder Sarazenin sein können.
Persephone beobachtete mich ganz offen, während sie mich durch die Räume im Erdgeschoss führte, die wegen der geschlossenen Fensterläden in e inem verschwommenen Halblicht lagen, das mich unwillkürlich an verträumte Sonntagnachmittage meiner Kindheit erinnerte.
Nicht nur das Porträt in der Halle, auch alle anderen dieser stillen, verlassenen Räume, deutete auf längst vergangene Zeitalter hin. Dieses ganze Haus, mit allem was darin
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