Pandoras Tochter
Namen Pandora – was so viel heißt wie ›alle Gaben‹ – trägt. Hermes schenkte ihr List, Verwegenheit und Charme, von Aphrodite bekam sie Schönheit, von Apollo die Musikalität und die Heilkunst, von Hera die Neugier. Zeus gab Zwietracht und Dummheit dazu.« Er lächelte. »Es gibt Feministinnen, die ins Feld führen, dass Pandora in früheren Mythen als große Göttin galt, die Leben und Kultur ermöglicht hat. Dass man Pandora für alles Schlechte auf dieser Welt verantwortlich gemacht hat, war, wie diese Feministinnen behaupten, nur ein Trick, um Frauen das Leid der Menschheit anlasten zu können. Sie ziehen Vergleiche mit Evas Rolle im Paradies.« Und nach einer Weile setzte er hinzu: »Aber alle stimmen darin überein, dass in der Büchse, die sie öffnete, auch Hoffnung war. Wenn es die Hoffnung gab, warum sollten dann nicht neben all den bösen Geistern auch andere gute freigelassen worden sein?«
»Weil es ein von einem Mann ersonnener Mythos ist.« Megans Lippen wurden schmal. »Und es war einfach, die arme Rosa Devanez mit Pandora, die Böses in die Welt gebracht hat, gleichzusetzen, obwohl sie gebeten wurde, den Menschen zu helfen.«
»Ein guter Einwand. Aber Rosa war nicht die erste Pandora in der Familie. Laut Ricardo wurde das Talent schon mindestens hundert Jahre vor der Inquisition in der Familie weitervererbt. Nicht in jeder Generation gab es eine Pandora; manchmal wurden drei, sogar vier Generationen übersprungen. Aber es war immer eine Frau, und sie war immer auch eine Lauscherin.«
»Ricardo hat den Priestern all diese Einzelheiten verraten?«
»Ich sagte doch, die frommen Männer dachten, sie hätten eine Erzfeindin in Rosa Devanez gefunden. Sie wollten wissen, wie sie diesen Dämon bekämpfen konnten, falls sie ihn dingfest machen könnten. Sie haben Ricardo ausführlich über die Charakteristiken einer Pandora befragt.«
»Und welche Charakteristiken sind das?«
»Viel Elan, außergewöhnliches Einfühlungsvermögen, Intelligenz, tiefes emotionales Verantwortungsgefühl.« Er holte tief Luft. »Sehr stark ausgeprägte Sinnlichkeit. Letzteres war in Torquemadas Augen äußerst verwerflich. Ricardo sagte, die Familie hätte den Pandoras die Sinnlichkeit vergeben, weil sie von tiefen Gefühlen hervorgerufen wurde, aber das Tribunal war unerbittlich.«
»Ist das alles? Steht sonst noch etwas in den Aufzeichnungen?«
»Nur noch die Verurteilung der Familie Devanez wird erwähnt und eine Resolution, die Dämonen und Ketzer unter ihnen aufzuspüren und zu vernichten.«
»Warum hast du mir dann die restlichen Seiten nicht gleich gegeben? Weshalb wolltest du mir selbst von dem Inhalt erzählen?«
»Ich denke, das weißt du.« Und er wiederholte leise: »Großer Elan, außergewöhnliches Einfühlungsvermögen, Intelligenz, emotionales Verantwortungsgefühl, Sinnlichkeit. Kommt dir das nicht bekannt vor?«
Natürlich kam es ihr bekannt vor. »Willst du damit sagen, dass ich eine dieser Pandoras bin?« Sie schüttelte den Kopf. »Selbst wenn ich an dieses Pandora-Konzept glauben würde, muss ich noch lange keine sein. Haben Lauscherinnen nicht ganz ähnliche Eigenschaften?«
»Ja. In geringerem Ausmaß.«
»Und wer weiß, ob dieser Teil von Ricardos Geständnis nicht reine Erfindung ist? Dass jemand Talente durch Berührung erwecken kann, ist noch weniger glaubhaft als die anderen parapsychologischen Fähigkeiten.«
»Und erschreckend. Die Verantwortung ist enorm. Man berührt jemanden und erschafft Frankensteins Monster.« Er lächelte. »Oder eine Mutter Teresa.«
»Ich bin Ärztin. Ich habe in meinem Leben viele Menschen berührt, und keiner hat sich in ein Monster oder in einen Engel verwandelt. Deshalb denke ich, diese sogenannte Begabung ist an mir vorbeigegangen.«
»Vielleicht. Sogar die Familie Devanez wusste nicht genau, wie sich dieses Talent bemerkbar macht. Ricardo meinte, es würde sich erst zeigen, wenn eine Frau Mitte zwanzig ist. Es könnte sein, dass du noch nicht das richtige Entwicklungsstadium erreicht hast. Oder vielleicht erwacht es nur unter bestimmten Umständen.«
»Du stocherst im Dunkeln. Mir reicht es schon, akzeptieren zu müssen, dass ich eine Lauscherin bin. Ich erlaube nicht, dass du mir das anhängst, ohne einen Beweis zu haben. Ich bin keine Pandora.«
»Genau diese Worte hat deine Mutter auch gebraucht«, erwiderte er ruhig. »Es war das Letzte, was sie zu mir gesagt hat. Sie sträubte sich bis zum Schluss, sich das einzugestehen.«
Keine
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