Pangea - Der achte Tag
den Rhythmus mit der flachen Hand auf den Boden und summte eine monotone Melodie dazu. Irgendwann merkte er, dass er das Lied sang.
Das Lied.
Jene fremdartigen Worte und Tonfolgen, die ihn in die Falle gelockt hatten. Aber anstatt vor Wut sofort mit dem Singen aufzuhören, sang er weiter. Im Gegenteil, er richtete sich etwas auf und stampfte nun auch mit den Füßen. Denn er hatte inzwischen etwas verstanden: Das Lied half gegen die Verzweiflung und die Einsamkeit und die Dunkelheit. Solange er sang, war sein Zeitgefühl wieder da, und er spürte auch seine Arme und Beine, als würden sie reumütig zu ihm zurückkehren, weil das Lied sie rief. Das Lied, das ihn verraten hatte, rettete ihm nun den Verstand.
Dabei wurde Sariel die ganze Zeit beobachtet. Die mittelalterliche Ausstattung seines Verlieses täuschte darüber hinweg, dass in den oberen Ecken hauchdünne, lichtstarke und schallempfindliche Fäden aus einem polymeren Kristall verlegt waren, die alles übertrugen, was sich in dem Raum abspielte. Weit weg von Sariels Gefängnis saßen Menschen zusammen, die jede seiner Bewegungen beobachteten. Darunter auch Liyas Vater. Er und seine engsten Berater stellten Vermutungen an, welche Fluchtpläne der fünfzehnjährigen Junge schmiedete, und bedauerten, dass die kristallenen Fäden nicht auch die Gedanken des Sariel übertragen konnten. Denn der Junge war ihnen ein Rätsel. Er war ihnen sogar unheimlich. Über Stunden hatte er nur apathisch in der Ecke gekauert und geweint. Plötzlich aber hatte er angefangen, ein seltsames Lied zu summen, und wirkte nun wieder völlig klar und konzentriert.
Chuang Shi, Liyas Vater, wandte sich von dem Bild der kleinen kristallenen Folie ab, die vor ihm auf dem Tisch lag und einen seltsamen Widerspruch zu dem knorrigen Danda-Holz bildete. Das ergab alles keinen Sinn. Weder Liyas konfuser Bericht über die Ereignisse am Chui-Riff und ihre Begegnung mit dem Sariel noch ihre Behauptung, sie und der Sariel seien sich schon früher in einem Traum begegnet. Es war schmerzhaft, sich das einzugestehen, aber Chuang Shi zweifelte inzwischen am Geisteszustand seiner Tochter. Oder noch schlimmer, er fürchtete, dass der Sariel ihren Geist irgendwie manipuliert hatte und sie nun beherrschte. Die Frage, die ihn jedoch ganz unmittelbar quälte, war, ob er Mingan glauben konnte, dass Liya eine mehrfache Mörderin war. Chuang Shi hatte Mingan mehrere Stunden lang vernommen und sie hatte immer wieder das Gleiche gesagt. Dass sie auf Drängen und Bitten der anderen Mädchen zurückgeritten sei, um Liya zu holen. Dass sie Liya jedoch nicht mehr angetroffen habe, nicht einmal eine Spur von ihr. Dass sie dann umgekehrt sei. Dass sie danach nur noch einen Haufen verkohlter Leichen vorgefunden habe.
Das widersprach durchaus nicht Liyas Bericht.
»Woher willst du wissen, dass Liya die Mädchen umgebracht hat?«, hatte Chuang Shi gefragt. »Schließlich gab es dort Gigamiten.«
Mingan hatte jedoch hartnäckig versichert, dass es an der Stelle, an der der Trupp lagerte, keine Gigamiten mehr gegeben habe. Die Bauten seien alt und verlassen gewesen, das habe sie als verantwortungsvolle Führerin ihres Trupps natürlich überprüft. Es habe überhaupt keine Gefahr bestanden. Dagegen habe sich Liya schon Tage zuvor äußerst seltsam verhalten, was letztlich zum Ausschluss aus dem Trupp geführt habe.
Chuang Sh! wandte sich zu den drei Zhan Shi um, die vor seinem Tisch standen und auf eine Entscheidung warteten. Vor ihm lag der grauschwarze Klotz der Zeitmaschine, die sie dem Sariel abgenommen hatten. Der Anblick der Bombe verursachte ihm eine unbestimmte Übelkeit, die ihn daran erinnerte, wie er als junger Mann dem Sariel die Bombe abgenommen und ihn danach getötet hatte. Der Sariel damals war ein Mann in seinem Alter gewesen, bewaffnet und stark. Bereit, jeden umzubringen, der sich ihm in den Weg stellte. Nicht einfach nur ein stiller Junge. Das beunruhigte Chuang Sh! mehr als die Bombe.
»Ruft Li. Er soll sich bereit machen, die Zeitmaschine an den vereinbarten Ort zu bringen.«
Einer der älteren Zhan Shi nickte und entfernte sich dann wieder. Chuang Shi warf einen letzten Blick auf die kristallene Folie mit dem Bild des Sariel in seiner Zelle.
»Wir müssen mit ihm reden«, sagte er schließlich. »Bringt ihn her!«
Sariel erschrak, als die Riegel an der Tür zurückgeschoben wurden. Das Geräusch unterbrach sein Summen und riss ihn aus dem tranceartigen Zustand, in den ihn das Lied versetzt
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