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Pangea - Der achte Tag

Pangea - Der achte Tag

Titel: Pangea - Der achte Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schlüter
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Liya stieß einen Freudenschrei aus, als sie sah, wie er einen Tentakel in ihre Richtung streckte und ein Auge öffnete. Sein Atem ging schwer, erholte sich aber langsam. Fassungslos sah Liya, wie ein Tentakel sich einen Gigamit wie eine reife Frucht vom Leib pflückte und triumphierend herumschwenkte. Dazu imitierte Biao den typischen Pfiff der Gigamiten, schleuderte den Kadaver dann lässig fort und gluckerte bedauernd dazu.
    Er macht Witze! Er macht tatsächlich noch Scherze!
    Liya begann zu begreifen, dass Kalmare die wahren Könige der Wüste waren. In den Millionen Jahren vor der Ankunft des Menschen hatten sie sich perfekt an sämtliche Lebensbedingungen angepasst. Selbst ein kurzer Steinwind konnte ihnen nicht den Tag verderben.
     

Schicksal
    Wenn Liya an ihr bisheriges Leben zurückdachte, so ließ es sich in zwei Abschnitte teilen. Ihr Leben vor dem Morgen, als ihr Vater ihr verboten hatte, eine Zhan Shi zu werden, und das Leben danach. Das Leben vor jenem Morgen war ein freundlicher ruhiger Strom gewesen, der versprochen hatte, sie in eine freundliche Zukunft zu tragen. Es hatte gute Tage gegeben und schlechte Tage, aber mehr gute. Sie hatte sich nur wenige Fragen gestellt und die meisten davon hatten ihre Mutter oder ihr Vater beantworten können. Sie hatte viel gelacht. Sie hatte nur selten weinen müssen.
    Das hatte sich geändert.
    Alles hatte sich geändert seit jenem Morgen in der Wüste. Dieses neue Leben war kaum vier Wochen alt und doch hatte Liya in dieser Zeit mehr geweint als in all den Jahren davor. Sie hatte düstere Träume gehabt und sie hatte den Tod zu sich und zu anderen kommen sehen. Sie hätte auf all das gerne verzichtet, aber es war, wie es war.
    Sie war mit einem Schlag erwachsen geworden.
    Wenn Liya in ihre linke Hand blickte, dann sah sie dort vier Handlinien. Herz- und Kopflinie waren kräftig und unauflösbar zu einem dicken Strang verknüpft. Ihre Lebenslinie dagegen war zart, fast kaum zu erkennen, kurz nur und gleich am Anfang unterbrochen. Wie zerrissen. Eine fahrende Wahrsagerin, die ihr Vater auf einer Karawane gegen Bezahlung mitgenommen hatte, hatte ihr einmal erklärt, dass diese Unterbrechung für eine große Lebensveränderung stehe. Eine schwere Krankheit. Eine Trennung von geliebten Menschen. Ein Abschied von allem, was ihr vertraut war. Aber die Handleserin hatte auch gesagt, dass ihr Leben danach weitergehen würde. Und dann hatte sie noch auf eine weitere starke Linie hingewiesen, die angeblich nicht jeder Mensch hatte. Die Schicksalslinie. Sie stehe für eine besondere Aufgabe, die Liya noch zu erfüllen habe, hatte die Handleserin noch gesagt, bevor Liyas Vater sie wütend aus der Jurte scheuchte.
    Liya glaubte nicht an Hokuspokus, schon damals nicht. Aber die Handleserin hatte sie beeindruckt, hatte viel über Liya gewusst, und ihre Kunst war schließlich über viertausend Jahre alt und stammte aus einer Zeit lange vor dem Zeitsprung. Aus einer untergegangenen Welt, in der Menschen auf der Erde noch keine Fremden waren. Liya dachte oft an jene untergegangene Epoche. Sie hatte gehört, dass die Menschen in großen offenen Städten zusammengelebt hatten, nur wenige von ihnen in Wüsten. Ihre Welt war bunt gewesen und laut und dreckig und schön, aber sie hatten auch grausame Kriege geführt. Eine seltsame, unverständliche Welt mit Menschen, die weder Ori noch Sari glichen. Aber eine Welt, die immer wieder Liyas Fantasie entzündete und die sie in ihre Geschichten und Märchen einbaute.
    Liyas Vater hatte damals darauf geachtet, dass die Wahrsagerin Liya während der ganzen Reise nicht mehr zu nahe kam. Aber am Ende konnte Liya doch noch ein letztes Treffen einrichten und bei diesem Treffen schenkte die Wahrsagerin Liya ein Buch.
    Ein kleines Buch nur, alt und vergilbt. Es war das erste Buch, das Liya überhaupt sah. Bücher waren seltene Relikte und stammten ebenso wie die Kunst des Handlesens aus der untergegangenen Epoche. Das Buch, das die Wahrsagerin Liya schenkte, war in einer unbekannten Sprache verfasst und zeigte zwischendurch Abbildungen von seltsamen Symbolen und Zeichen. Die Wahrsagerin erklärte, die Sprache sei »Englisch«, und deutete auf eine kleine Jahreszahl auf einer der ersten Seiten: 2010. Das Buch war fast zweitausend Jahre alt! Es musste unendlich kostbar sein, doch aus irgendeinem Grund, den sie Liya nicht verraten wollte, überließ es ihr die Wahrsagerin und nahm ihr den Schwur ab, es niemandem zu zeigen. Liya sah die Wahrsagerin nie

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