Panic
blutig. Ich wollte sie verachten, aber ich konnte es nicht; ich hatte die Liebe gespürt, die er für sie empfand, und begriff, dass sie irgendwie verwandelt worden war, vom unschuldigen Opfer zum Talisman eines rachsüchtigen Psychotikers. Ich steckte das Foto wieder in den Beutel und band ihn mir um den Hals.
Der Wolf wurde allmählich steif im kohlefarbenen Matsch neben der Feuerstelle. Normalerweise mieden Wölfe die Menschen, griffen sie nur höchst selten an. Ich wunderte mich über den Wirbel pulsierender Energie, den ich gespürt hatte, nachdem die Wölfe in die Flucht geschlagen waren. In welch finsteren Welten mochte dieser Mann herumgestochert haben mit seinen pervertierten Zeremonien und den Halluzinogenen? Und welche Kräfte gehorchten ihm außerdem?
Ich beugte mich über den Wolf und streichelte sein dichtes Fell. »Pass auf mich auf«, flüsterte ich.
Dann richtete ich mich auf, orientierte mich, wo sich der Holzlagerplatz befand, an dem Patterson mich am ersten Tag abgesetzt hatte, und ging los.
Die Drogen, die ich hatte rauchen müssen, beeinflussten nicht mehr meine Wahrnehmung; jetzt sah ich die Welt wieder mit meinen Augen. Das Mondlicht sickerte schräg durch das Dach des Waldes. Es wurde vom Neuschnee reflektiert, der sich jetzt in der eisigen Luft festigte, und die Landschaft vor mir in ein trübes Licht tauchte. Die Silhouetten der Bäume, jadegrün und wie aus gehämmertem Eisen, griffen nach dem Licht, brachen es und machten es sich zu Eigen.
Während ich durch die bizarre Landschaft lief und der Schnee um meine Knie schlug, wuchs in mir die Gewissheit, dass ich einen festen Platz darin hatte. Meine Vorfahren glaubten, fast jedes Lebewesen könne sowohl seine Gestalt als auch seinen Geist verwandeln. Aus meiner Sicht – der Sicht einer Frau zu Anfang der neunziger Jahre mit einem Diplom in Computertechnik – war ihre Welt damals unberechenbar, unverlässlich und beängstigend. Psychisch gesehen lebten sie in einer grausamen Umwelt, wo nichts war, wie es schien, sie konnten nur überleben, indem sie ebenso unberechenbar wurden und von einem Moment zum anderen ihre Meinung und Absicht ändern konnten. Ich würde das lernen müssen.
Als ich den Holzlagerplatz erreichte, waren meine Augenbrauen, meine Wimpern und der Rand meiner Kapuze von Raureif überzogen. Ich verharrte im Licht des untergehenden Mondes, um die Spuren zu begutachten. Menschliche Fußspuren und die Kettenspur des Schneemobils. Offenbar hatten sie gestern Nachmittag hier draußen nach mir gesucht und waren erst im Schneegestöber abgezogen.
Ich schöpfte Wasser aus dem Bach, um meinen Durst zu stillen; dann hörte ich weit in der Ferne Schüsse. Mir sank der Mut. Er hatte mindestens eine Stunde Vorsprung, vielleicht auch eineinhalb. Konnte er schon am Blockhaus sein? Ich rannte in die dunklen Stunden hinein, erspürte meinen Weg zum Camp entlang der geriffelten, gefrorenen Spur, die das Fahrzeug unter meinen Füßen hinterlassen hatte.
Es war vier Uhr früh, als ich das Camp erreichte. Das Blockhaus war hell erleuchtet. Für mich, vermutete ich mal, ein Leuchtfeuer für den Jäger, der sich in der Nacht verirrt hat. Ich lächelte, dachte an ein gutes Essen und eine heiße Dusche, an die Sicherheit zwischen diesen Menschen, die im Augenblick eine Art Familie für mich waren. Ich hatte kaum zehn Schritte über den Hof getan, als ich das Repetieren einer Pumpgun hörte.
»Ein Schritt weiter, und es ist dein letzter«, kam eine gereizte Stimme aus dem Dunkel rechts von mir.
»Phil?«, rief ich. »Sind Sie das? Ich bin’s, Diana.«
»O Mann«, fluchte Phil und trat aus der Dunkelheit. »Sie haben verdammt Glück, dass ich nicht abgedrückt hab. Wo zum Teufel sind Sie gewesen? Und was sind das für Klamotten?«
»Erklär ich später. Ich hab Schüsse gehört vor ’ner Stunde.«
Phil seufzte, und der Seufzer wurde zum Schauder. Seine Lippe zitterte. »Er ist hier gewesen, hat sich ausgetobt und ist wieder weg. Hab’s nicht mehr ausgehalten da drin.«
»Er will uns alle umbringen«, murmelte ich und scheute mich vor der nächsten Frage.
Phil kam mir zuvor. »Butch«, sagte er, und Tränen liefen ihm übers Gesicht.
Die Kraft, die ich gespürt hatte, nachdem ich den Wölfen entkommen war, verließ mich wieder. »O Gott, tut mir Leid«, sagte ich.
Phil starrte auf seine Füße. »Er war seit der vierten Klasse mein bester Kumpel, wissen Sie das? Wir haben uns verändert im Laufe der Jahre. Anfang der Siebziger,
Weitere Kostenlose Bücher