Panik: Thriller (German Edition)
hinzugezogen, weil du mein Freund bist. Weil ich dir vertrauen kann. Aber sonst darfst du niemandem davon erzählen. Alles klar?«
Murdoch nickte, wollte sich erneut mit der Hand über die Bartstoppeln fahren und stieß gegen die Maske. Das Adrenalin fuhr wie ein greller, sengender Blitzschlag durch seinen Körper. Er holte ein paarmal tief Luft. Die Maske beschlug, was ihm ganz recht war– so konnte er nur verschwommen sehen, wie Jorgensen den Arm ausstreckte und den Wandschirm zurückschob.
Er wollte auch nicht sehen, was da in der Ecke des Raums lag. Hören konnte er es, ein Geräusch, das das Klappern und Scheppern der überlasteten Klimaanlagen noch übertönte. Es war ein Schrei, ein grässlicher, elender, gurgelnder Schrei aus einer feuchten Kehle, doch dabei wurde die Luft nicht ausgestoßen, sondern eingesaugt, wie bei einer heftigen Asthmaattacke. Er konnte den Atem förmlich auf seiner Haut fühlen, spürte, dass die Gänsehaut ihn wie ein Mantel aus Furcht einhüllte. Am liebsten wäre er aus dem Raum gelaufen und direkt in eine Badewanne voll Desinfektionsmittel gesprungen oder in die Sonne gerannt, damit sie ihm jede Erinnerung an diese Empfindung von der Haut brannte.
Der Nebel in seiner Maske verschwand langsam, und durch die Plastikscheibe sah er einen nackten Körper, der auf einem Seziertisch aus Edelstahl lag. Es war ein junger Mann. Und er war tot. Daran konnte gar kein Zweifel bestehen. Sein Brustkorb war geöffnet wie ein Weihnachtspräsent, große geschenkpapierrote Hautlappen waren zur Seite gezogen und enthüllten einen Korb voller verschrumpelter Organe. Das Blut hatte sich nach dem Tod auf der Unterseite des Körpers gesammelt, sodass diese eine schwarze Färbung angenommen hatte.
Sieh nicht in sein Gesicht, ermahnte ihn sein Verstand. Aber er konnte sich so wenig davon abwenden, wie er sich Flügel wachsen und aus dem Leichenschauhaus davonflattern konnte. Seine Augen wanderten von der geöffneten Bauchhöhle über die leblose Kehle hin zu einem Gesicht, das immer noch lebte.
Nein, am Leben war es eigentlich nicht mehr. Und dennoch bewegte es sich– der Mund stand viel zu weit offen, so weit, dass Murdoch bequem seine ganze Faust hätte hineinschieben können, wäre er auch nur zur kleinsten Bewegung fähig gewesen. Daher stammte also dieser Schrei, das gurgelnde Pfeifen. Es erinnerte Murdoch an den alten Videorekorder, den seine Frau nicht wegwerfen wollte, obwohl man überhaupt keine Kassetten mehr dafür kaufen konnte. Wenn man die Stopptaste drückte, fror das Bild ein, doch die Leute auf dem Bildschirm bewegten sich immer noch, flackerten und zitterten, und das Band gab ein rasselndes Brummen von sich, bis man wieder auf den Startknopf drückte. Der Körper vor ihm war auf dieselbe Weise erstarrt, und obwohl er tot war, obwohl er sich nicht bewegte, trug er Leben in sich. Als würde etwas direkt unter der papierdünnen Haut lauern, zappeln und zucken und atmen, in einem endlosen eingesogenen Schrei.
Es waren die Augen, erkannte er schlagartig. Weiße Murmeln in faltigen Höhlen, vernebelt vom Tod– und doch konnten sie noch sehen. Er begriff, dass diese stecknadelgroßen Pupillen, die an die Decke des Leichenschauhauses starrten, etwas wahrnahmen; sie beobachteten.
» So geht das schon seit einer Stunde«, sagte Jorgensen neben ihm. » Seit ihn der Leichenwagen eingeliefert hat.«
Murdoch taumelte, fiel gegen die Wand. Jorgensen sah ihn an, und Murdoch erkannte sein eigenes schockiertes Spiegelbild in der Maske des Pathologen.
» Kein Puls, kein Blutdruck«, fuhr er fort. » Hundertprozentig tot.«
» Unmöglich«, zischte Murdoch. » Er atmet ja noch.«
Jorgensen wandte sich wieder der Leiche zu und schüttelte den Kopf. » Nicht ganz«, sagte er. » Die Lungen sind kollabiert, und trotzdem holt er Luft. Wir haben ihn aufgeschnitten um nachzusehen, wohin die Luft verschwindet.«
» Und wohin?«, fragte Murdoch. Er musste gegen den immer gleichen, endlosen rasselnden Pfeifton anschreien, der aus dem ausgerenkten Kiefer drang.
Jorgensen zuckte mit den Schultern.
» Das ist ja das Komische«, sagte er und öffnete eine Dose mit Talkumpulver, die auf einer Ablage neben dem Seziertisch stand. Er nahm eine Prise zwischen die Finger und ließ sie über dem Mund der Leiche hinabregnen. Der Tote inhalierte das Pulver wie ein Staubsauger. Murdoch trat einen Schritt vor und spähte in den geöffneten Mund. Das Pulver war in der schwarzen Öffnung der Kehle verschwunden.
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