Panik: Thriller (German Edition)
einen Laib Brot aus der Tüte, riss ein Stück ab und steckte es sich in den Mund. Sie war kurz vor dem Verhungern, wollte aber keine Schwäche zeigen, indem sie den ganzen Laib auf einmal verdrückte.
» Weil ich so hart wie ein Ziegelstein bin«, knurrte er.
» Nett«, sagte sie. Neandertaler.
» Wie heißt du?«, fragte Daisy.
» Rilke«, sagte sie. » Rilke Bastion. Das da unten ist mein Bruder Schiller.«
» Deine Eltern sind wohl Freunde der Dichtkunst«, sagte Brick spöttisch. Das überraschte sie. Woher wusste der Höhlenmensch, dass sie beide nach deutschen Dichtern benannt waren? Er lächelte ein listiges Lächeln, das Hättest du wohl nicht erwartet? zu besagen schien. Daisy hustete höflich, um das unangenehme Schweigen zu beenden.
» Meine Eltern haben…«, fing das kleine Mädchen an, und in der darauffolgenden kurzen Pause konnte Rilkes Verstand die Lücken schließen. Obwohl sie nichts sah, fühlte sie die Schwere, diese grässliche Gewissheit der beiden toten Menschen auf dem Bett. Daisys Gesicht fiel zusammen wie eine Papiertüte im Regen. Rilke hätte sie am liebsten in die Arme genommen. Mädchen mussten schließlich zusammenhalten. Aber Cal erreichte sie vor ihr, und seine Nähe beruhigte sie offenbar.
» Meine Mum, sie wollte mir nicht wehtun«, sagte Daisy. » Sie war sowieso krank, sie hatte… Krebs im Kopf. Da war sie manchmal seltsam. Sie… sie hat erst meinen Dad und dann sich selbst umgebracht, damit sie mir nichts tun konnten. Später wollten mich die Sanitäter umbringen, einer hat mich aus dem Fenster gestoßen.« Das Mädchen sah zu dem Jungen auf, in dessen Armen sie lag. » Cal hat mich gefunden. Er hat mich gerettet.«
» Knapp war’s schon«, sagte Cal, drückte Daisy noch einmal fest und ließ sie dann los. Er erzählte seine Geschichte etwas sicherer als die anderen, als hätte er bereits heimlich geübt. Als er fertig war, sah er Rilke an. Alle sahen sie an. » Jetzt du.«
Was sollte sie sagen? Sie hatte keine Ahnung, was da passiert war. Sie war ruhig geblieben und konnte logisch denken, aber nur deshalb, weil sie noch nicht richtig realisiert hatte, was geschehen war. Nichts davon schien real. Vielleicht war auch nichts davon real. Vielleicht war sie ja auf die Party gegangen, und jemand hatte ihr LSD oder Ecstasy gegeben. Das war alles nur ein schlechter Trip. Sie schluckte das Brot hinunter und zuckte ratlos mit den Schultern.
» Wir wurden auf einer Party angegriffen. Dann waren wir plötzlich in einer anderen… keine Ahnung, wo. Jedenfalls sind wir irgendwie entkommen. Ich habe gehört… nein gespürt, dass ihr uns gerufen habt, also hab ich meinen Bruder hierher gebracht. Ich dachte, ihr wisst, was hier los ist. Ich dachte, ihr hättet Antworten und könnt uns helfen.«
Plötzlich schlug eine Woge aus Panik und Angst und völliger Hilflosigkeit über ihr zusammen. Sie biss die Zähne zusammen, bis es vorüber war. Vor diesen Leuten durfte sie sich keine Schwäche erlauben. Niemals. Zu spät, dachte sie, als sie bemerkte, wie Daisy sie anstarrte. Als stünden ihre Gedanken auf ihrer Stirn geschrieben. Rilke stand auf und kehrte ihnen den Rücken zu. Auf dem Dach war es auf einmal fürchterlich heiß.
» Wir sind so schlau wie du«, sagte Cal hinter ihr, und einen Augenblick lang dachte sie, dass er mit dieser Bemerkung lächerlicherweise behaupten wollte, ihre Gedanken lesen zu können. » Die Leute werden verrückt. Sie kriegen diese…«
» Die Wut«, beendete Rilke den Satz, obwohl sie sich den Begriff dafür nicht selbst ausgedacht hatte. Vielleicht funktionierte es ja auch in der anderen Richtung? Vielleicht konnte sie ihre Gedanken stehlen?
» Ja, die Wut. Die kriegen sie nur, wenn einer von uns in der Nähe ist. Dann flippen sie völlig aus und wollen uns umbringen. Wirklich, sie wollen uns in Stücke reißen.«
» Und später machen sie einfach ganz normal weiter«, sagte Brick. » Als wäre gar nichts passiert. Sie haben völlig vergessen, dass sie ausgerastet sind. Wenn du nicht auf ihrem Radar bist, lassen sie dich in Frieden. Glaub ich zumindest.«
Ein paar kreischende Möwen landeten auf dem Dach, musterten die Fremden misstrauisch und flogen wieder davon. Rilke wandte sich den anderen zu.
» Und was ist mit Schill?«, fragte sie. » Wieso ist er so kalt? Was ist mit ihm passiert?«
Sie sahen sich gegenseitig an, und sie spürte die große schwarze Leere in ihren Gehirnen. Sie hatten keine Ahnung. Angewidert schüttelte sie den
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