Panter, Tiger und andere
Gefangenen ins »Verließ«. Das ist ein dicker runder Turm im Salatgarten, der an der Dienstwohnung Nickels liegt. Unten am Eingang ein kleines Porzellanschild:
VERLIESS.
Dieser Ort darf nicht verunreinigt werden.
Und ein messingener Klingelgriff. An dem zieht Nickel.
Pantoffeln schlurfen im Innern, ein Wärter nimmt den Zug in Empfang. Oben, auf dem Turm, krächzen die Raben, wie sichs gehört. Man klettert eine knarrende Wendeltreppe empor. Eine schwere Bohlentür öffnet sich.
Die drei taumeln in einen hellen, freundlichen Raum mit weißen Gardinen und Blumen am Fenster. »Wenn wer was will, mag er rufen«, sagt Nickel.
Der Schwede bleibt stumm. Miß Lapsley hebt beschwörend die Hände: »Hier allein mit zwei Männern!«
Und nur der Herr Oberlehrer Kurlbaum sagt: »Zuvörderst, guter Mann, scheint es mir doch nötig zu sein, dass Ihr unsere Personalien …«
»Halts Maul!« sagt der Räuber und zieht die Tür zu. Dann geht er Kaffee trinken.
In zweiundvierzig Hütten erzählen vierundachtzig bärtige Lippen aufhorchenden Weibern und Kindern dasselbe Abenteuer: wie sie der Post aufgelauert haben, wie die dröhnende Stimme des Hauptmanns »Halt!« rief, wie sich dann die Pferde gebäumt haben, die der Postillon erschreckt zurückriß, wie die zitternden Reisenden dem Wagen entstiegen … Und sie berichten und knastern, und der Pfeifenrauch des guten Räuchertabaks 002 von J. A. Rebenstock (Erfurt, Räuberbedarfsartikel en detail, Lieferung im verschlossenen Kuvert ohne Firmenaufdruck) hängt wolkig in den niedrigen Zimmern, dass die Hausfrauen scheltend die Fenster öffnen müssen … Und dann ist es Abend, und die Räuber versammeln sich in der »Alten Räuberhöhle« (Besitzer Hannes Heckmann) zur Singprobe. Und aus vierzig Kehlen schallt:
»Ein freies Leben führen wir,
ein Leben voller Wonne!«
Da öffnet sich die Tür: es ist Fetzer, der sich verspätet hat.
Der Dirigent klopft ab: »Herr Fetzer, wenn Sie noch einmal zu spät kommen, zahlen Sie fünfzig Pfennig in die Kasse!« Und wieder erdröhnt der Chorus der kräftigen Bässe und Räubertenöre.
Einer fehlt: Nickel Kernbeißer. Er hat sich entschuldigen lassen. In seiner Wohnung, auf dem Gang, lärmen die Kinder. »Pscht!« tadelt Mama Kernbeißer, »wollt ihr wohl stille sein! Vater erpreßt Lösegeld!«
Der Hauptmann schreitet im Bureau auf und ab und diktiert seiner Sekretärin die nötigen Briefe an die Angehörigen der Gefangenen. Man hat Adressen bei ihnen gefunden; Oberlehrer Kurlbaum hat freiwillig sein Nationale hergesagt… »und werden wir gegebenenfalls nicht davor zurückscheuen, Hand an Ihren Herrn Sohn zu legen – haben Sie ›legen‹?« Und die Maschine schnattert, und der Räuber Kernbeißer droht der alten Frau Kurlbaum, ihr Sprößling werde gerädert, wofern sie nicht… »Wofern Sie nicht, sehr verehrte gnädige Frau, bis zum 14. ds. Mk. 450,- (in Worten Vierhundertundfünfzig Mark) benebst 3 % Provision in der hohlen Linde unweit der Chaussee am Kaiserquell niederlegen lassen!« Und nachdem er unter die Briefe den Stempel mit dem Totenkopf abgedrückt hat, begibt er sich zu den Gefangenen.
Auf dem Gang zieht er die Schuhe aus. Schleicht an die Tür und lauscht. »Es tut mir leid, verehrtes Fräulein,« hörte er den Oberlehrer sagen, »dass unser junger Kollege Matthießen nicht hier ist. Er beherrscht die englische Sprache in weit vollendeterem Maße als ich. Schade! Schade!« – Dann hört er die Miß seufzen, und dann sagt der Oberlehrer wieder: »Riechen Sie nur, mein Fräulein, und auch Sie, Herr Steenstrop, die herrlich würzige Waldluft. Ich denke, der Aufenthalt hier wird uns guttun.« Und jemand holt tief Atem.
Da tritt Kernbeißer ein. »Wie ist das mit dem Lösegeld?« Betretenes Schweigen. »Wers nicht zahlt,« sagt der Hauptmann, »wird gehängt, gerädert, was weiß ich!«
Die Miß fällt auf einen Stuhl und in Ohnmacht; der Schwede tut zum zweiten Male im Gang der Ereignisse den Mund auf. Er sagt ein kurzes, knarrendes Wort, das niemand versteht; er hats schon einmal gesagt, vorhin, als man ihn aus der Kutsche holte. Hingegen Kurlbaum: »Ich kann nicht umhin, sagen zu müssen, dass meine vorgesetzte Behörde wohl die nötigen Schritte zu meiner Befreiung ergreifen wird. Es dürfte sich empfehlen, sich vielleicht diesbezüglich an dieselbe zu wenden.«
Der Räuberhauptmann lacht höhnisch. Er weiß, wenns nach denen ginge, säßen noch alle Oberlehrer hier, die er je gefangen. Nein, da werden die
Weitere Kostenlose Bücher