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Papa

Papa

Titel: Papa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven I. Hüsken
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ein. Gedanken, Gefühle, Wörter. Sie versuchte, etwas zu sagen, doch entwischten ihr die gebildeten Sätze gleich wieder, und sie brachte lediglich ein Stammeln heraus.
    Der Mann war blond, füllig im Gesicht. Das war nicht Tom.
    Michelle konnte ihr Glück kaum fassen. Sie kannte den Mann nicht, den der Himmel schickte. Lilly hatte nicht mehr viel Zeit, und jetzt hatte sie wieder eine Chance, zu überleben.
    »Kommen Sie«, der Mann legte einen Arm um sie und führte sie zu einer Betontreppe, auf die sie sich setzte. »Wie lange sind Sie denn schon in dem Raum?« Er musterte sie. »Gott, Sie sehen schlimm aus. Wurden Sie geschlagen? Augenblick.« Er wühlte in seiner Hosentasche und zog ein Stofftaschentuch heraus. »Das tut jetzt weh.« Er tupfte vorsichtig über ihre Stirn. »Soll ich Sie nach Hause bringen oder lieber in ein Krankenhaus?«
    »Wenn Sie die Polizei rufen würden, würde mir das schon helfen.«
    »Natürlich.«
    Michelle nickte und versuchte ein Lächeln. »Danke.«
    Der Mann zog ein Handy hervor, hielt es ans Ohr und schaute auf das Display. »Hm, hier drinnen gibt es wohl zu viele Stahlträger. Ich habe keinen Empfang. Ich werde zum Telefonieren nach draußen gehen müssen. Meinen Sie, Sie schaffen es noch eine Weile allein? Ich bin gleich wieder zurück.«
    »Bitte«, Michelle hielt ihn am Ärmel zurück. »Die Polizei soll sich beeilen.«
    Er starrte sie einen Moment lang an, als müsste er analysieren, was sie gesagt hatte. Seine Augen zuckten hin und her, und seine Lippen formten lautlose Wörter. Dann nickte er kurz. »Natürlich. Ich bin gleich zurück. Das Tuch können Sie behalten. Die Blutflecken bekomme ich eh nicht mehr heraus.« Damit verschwand er.
    Michelle krallte sich in das Taschentuch, als wäre es die Reißleine eines Fallschirms. Die Kopfschmerzen traten in den Hintergrund. Jetzt, wo die Verzweiflung wich, begann ihr Verstand zu arbeiten.
    Sie wischte sich über das verschwitzte Gesicht und betrachtete die Blutflecken, die hellrosa über dem Stoff verteilt waren.
    Dabei fiel ihr der Name auf, der in kunstvollen Lettern auf das Taschentuch gestickt war: Sebastian Graf.
    Ein ungewöhnlicher Nachname. Vielleicht war er ihr deshalb im Gedächtnis geblieben? Sie kramte in ihren Erinnerungen, doch die Kopfschmerzen wüteten wie ein Sturm in ihrem Kopf und wirbelten alles durcheinander. Graf war irgendeine Berühmtheit. So viel konnte sie sagen.
    Was machte so jemand im Dunkeln hier auf einer Baustelle?
    »So«, Sebastian kam zurück. Er lächelte zuversichtlich. »Die Polizei weiß Bescheid und schickt einen Streifenwagen zu mir nach Hause. Ich habe ein Haus ganz in der Nähe, dann müssen Sie nicht hier in der Kälte warten. Der Beamte am Telefon meinte, dass es etwas dauern könnte. Offensichtlich wird das Einsperren von Personen nicht als Notfall behandelt. Ich habe ihnen gesagt, dass sie auch einen Krankenwagen schicken sollen. Die Wunde auf Ihrer Stirn sieht schlimm aus und sollte genäht werden.«
    »Nein, ich brauche die Polizei jetzt! Es ist wirklich dringend.«
    »Ich werde Sie nicht hier in der Kälte lassen. Es zieht durch alle Mauern. Wenn wir bei mir sind, können Sie gerne die Polizei noch einmal anrufen und ihnen etwas Dampf unterm Hintern machen. Einverstanden?«
    Michelle nickte zögernd, aber welche Wahl hatte sie schon? Und im Grunde war sie froh, von diesem Ort wegzukommen, der beinahe ihr Grab geworden wäre. »Danke. Vielen, vielen Dank. Sie glauben nicht, was mir das bedeutet.« Michelle lehnte sich nach hinten auf die Stufen, die sich kalt gegen ihren Rücken pressten, und schloss die Augen.
    Toms Zeit war abgelaufen. Nur noch ein paar Minuten. Tick, tack, tick, tack. Sie konnte die Uhr deutlich hören, und ihr Ton war süß wie Weihnachtsglocken. Sie hätte der Polizei von Anfang an vertrauen sollen. Doch nun war es zu spät für Reue.
    Michelle legte sich die Worte zurecht, die sie den Beamten sagen würde. Vor allem aber, was sie
nicht
sagen würde.
    Ach Michelle, du glaubst doch nicht ernsthaft, dass du mit so einem schlechten Gewissen leben kannst? Du hast den Vater deiner Tochter getötet.
    Vielleicht war es so, aber das würde sich zeigen. Es kam auf einen Versuch an.
    Sebastian setzte sich neben sie. »Wer hat Sie denn hier eingesperrt? Hatten Sie Streit? Mit Ihrem Mann?«
    Michelle öffnete die Augen. »Ja«, antwortete sie schwach. »So ähnlich. Aber was machen
Sie
so spät am Abend auf einer Baustelle?«
    »Oh, ich bin Künstler, wissen Sie. Ich

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