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Papa

Papa

Titel: Papa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven I. Hüsken
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lockerte sich nichts.
    Aus der unteren Etage drang eine Stimme zu ihr hoch. Sie klang gepresst wie unter Schmerzen und wütend. »Jetzt pack endlich deine Sachen zusammen. Hör auf zu heulen, deiner Mama geht es gut, aber wenn du nicht langsam tust, was ich sage, werde ich mich um sie kümmern. Und du weißt, wie ich mich um sie kümmern werde, nicht wahr?«
    Lilly! Sie war da unten, bei ihm.
    Schluchzend bohrte sie einen Finger in die Matratze, auf der kein Laken gespannt war, und riss ein großes Stück Stoff heraus.
    Einen Augenblick schnappte sie nach Luft, dann ging sie zurück zum Fenster und starrte auf ihre Hand, die sich zu einer Faust ballte.
    Zu einem Werkzeug wurde.
    Sie wickelte den Stoff darum und berührte die Scheibe. Ganz sachte.
    Konnte man Glas mit der bloßen Faust zerschlagen?
    Sollte die Frage nicht eher lauten, ob
du
das Glas mit der bloßen Hand zerschlagen kannst?
    Michelle wusste, die Angst würde sie zurückhalten, wenn sie länger überlegte, also schlug sie zu. Es knirschte, und im ersten Moment dachte sie, eine Scherbe wäre in ihre Faust gedrungen. Aber da war kein Blut. Das Fenster war noch heil, es wackelte nur ein wenig.
    Wieder schlug sie zu. Fester diesmal.
    Er brachte Lilly von hier fort. Das durfte nicht sein. Sie musste sich beeilen. Vielleicht war dies hier ihre letzte Chance. Nur noch dieses Fenster stand zwischen ihr und ihrer Tochter.
    Es krachte, und die Scheibe splitterte um ein volleyballgroßes Loch herum. Michelles Hand blieb unverletzt, bis auf das dumpfe Pochen im Innern.
    Sie klopfte gegen die gebrochene Scheibe, bis sie in unzählige Stücke zerbrach, die unter ihr in der Dunkelheit verschwanden.
    Die Nachtluft war kühl und feucht. Bald würde es wieder regnen. Nur mit Unterwäsche bekleidet, stieg sie auf die Fensterbank und kletterte hinaus.
    Draußen war der Wind eisig. Es war ein ungewöhnlich kalter und nasser Sommer. Ihre Brustwarzen zogen sich zusammen. Sie drehte den Kopf, versuchte, unter sich etwas zu erkennen, doch das Haus stand zu weit weg von irgendwelchen Lichtquellen.
    Mit nackten Füßen ertastete sie unterhalb des Fensters einen Sims, der breit genug war, um darauf zu steigen. Rechts von ihr rauschte es. Wenn dort ein Baum stand, konnte sie sich vielleicht an den Ästen hinunterhangeln?
    Vorsichtig schob sie einen Fuß vor den anderen, während sie ihren Oberkörper gegen die Wand presste. Viel Spiel hatte sie nicht. In diesem Moment wünschte sie sich, ihre Brüste wären kleiner.
    »Lillian! Ins Auto!«, raunte unter ihr die Männerstimme von vorhin. Der Wind rauschte in ihren Ohren, so dass Michelle sie nicht zuordnen konnte, doch Tom war der Einzige, der Lilly immer
Lillian
genannt hatte. Nur er.
    Sie hörte eilige Schritte auf Kies.
    Beeil dich, Michelle! Sie fahren weg.
    »Lilly!«, schrie Michelle und ihre Stimme überschlug sich. »Lilly, ich bin hier. Halt aus, mein Schatz, ich hole dich. Halt aus!« Der Wind strich ihr über die Lippen, als wollte er ihr die Wörter aus dem Mund stehlen. Vielleicht hatte er es geschafft, denn Lilly antwortete nicht. Dafür schlugen Autotüren.
    Immer schneller hangelte sie sich den Sims entlang. Bei jedem Ruck prallte ihr Körper von der Wand ab. Ihr Gleichgewicht geriet ins Wanken.
    Scheinwerferlicht flutete den Hof.
    Michelle schreckte zusammen, und der Abstand zwischen ihrer Brust und der Wand vergrößerte sich rasend schnell.
    Sie schrie auf, ruderte mit den Armen und versuchte, sich in der Luft zu drehen.
    Etwas Hartes streifte erst ihren Kopf, dann ihren Arm und rammte ihren Rücken. Der Baum! Für einen Moment verschlug es ihr den Atem. Blätter streiften ihr Gesicht.
    Instinktiv griff sie nach einem Zweig, der ihr sofort wieder entglitt. Unsanft prallte sie auf einen größeren Ast, ihr Körper machte eine Drehung, sie ruderte mit den Armen, bekam Blätter und Äste zu fassen und krallte sich daran fest.
    Ihre Handgelenke dehnten sich schmerzhaft, und kurz bevor sie glaubte, sie würden brechen, stoppte ihr Fall, und sie ließ sich auf einen tieferen Ast sinken.
    Schüsse peitschten durch die Nacht. Michelle schrie auf und glitt zu Boden.
    Die Reifen des Autos drehten durch, Kies spritzte in die Luft, dann brauste es davon.
    Weitere Schüsse fielen. Motoren heulten auf. Unverständliche Schreie kreischten in Michelles Ohren. Wieder Schüsse. Michelle rannte zur Straße, ignorierte die Schmerzen in ihren nackten Füßen und die verdutzten Blicke der Männer, die dort auf ein wegfahrendes Auto

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