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Papa

Papa

Titel: Papa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven I. Hüsken
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zurücksacken.
    Auch Tommi hielt seinen Kopf für einen kurzen Moment. Er verzog das Gesicht und starrte konzentriert auf einen Fleck am Boden. Dann fasste er sich und setzte sich neben sie.
    »Mama ist noch nicht da.« Der Vorwurf war deutlich zu hören. Lillian fühlte die Tränen hinter den Augen, doch sie unterdrückte sie. In diesem Zimmer war kein Platz für Schwäche.
    Tommi fuhr sich durch das Haar und schloss einen Moment die Augen, als müsse er sich sammeln. »Sie kommt. Mach dir keine Sorgen. Ich habe alles arrangiert. Geht es dir besser?«
    Lillian antwortete nicht gleich. Sie starrte ihren Stiefvater an, die Falten in seinem Gesicht, das sie so gut kannte, als wäre es ihr eigenes. Aus seinem Kinn sprossen Bartstoppeln, die ihn wirr aussehen ließen. Seine Hände und Unterarme waren mit Farbe beschmiert, und auch auf den Wangen waren ein paar Kleckse. Er wirkte wie ein Mensch, der keine dunklen Geheimnisse hatte. Wie ein Vater, der einen fröhlichen Morgen mit seiner Tochter verbringen wollte. Doch so war es nicht – und diese Gewissheit war grausamer als dieser verdammte Schmerz.
    Er erwartete eine Antwort, also schüttelte sie widerwillig den Kopf. Sie würde mitspielen, solange sie es musste.
    Lillian langte nach den Tabletten.
    »Es wird dir bald besser gehen. Versprochen. Die Tabletten sind gut. Sie helfen gegen die Schmerzen.«
    »Und sie machen, dass ich nicht denken kann.«
    Er lächelte. »Gibt es denn etwas, über das du nachdenken musst?«
    Lillian fröstelte. Gerne hätte sie sich unter die Bettdecke verkrochen, doch sie hielt still und ließ sich nichts anmerken. Sie war stark. »Vielleicht«, antwortete sie zögerlich. »Ich habe das Gefühl, dass hier etwas nicht in Ordnung ist. Ich weiß nur nicht, was. Ich weiß nur, dass du böse bist.« Ihre Lippen bebten. »Und dass du uns weh getan hast«, schluchzte sie. »Aber ich weiß nicht mehr, was passiert ist.«
    Er schnaufte belustigt. »Zermartere dir nicht den Kopf, Kleines«, er tätschelte sanft ihre Beine. »Ich übernehme für dich das Denken. Bald wird diese Phase vorüber sein, und dann wird alles klarer.« Er reichte ihr die kalte Tasse Tee. »Er ist nicht heiß, schmeckt aber sicherlich immer noch. Spül sie runter.« Er deutete auf die Tablette in ihrer Hand.
    Ihr ganzer Körper zog sich sträubend zusammen. Etwas in Lillian raunte ihr zu, die Tablette nicht zu nehmen. Sie benötigte einen klaren Verstand. Doch die Kopfschmerzen erstickten die Stimmen, bevor sie zu laut werden konnten. Nur noch diese eine. Danach war sie sicherlich so erholt, dass sie keine mehr brauchte. Nur noch diese.
    Lillian nahm den Tee. Pfefferminze. Der Beutel hing noch in der Tasse. Das Wasser war fast schwarz.
    Tommi erhob sich. »Ich habe dir Badewasser eingelassen. Ein heißes Bad wird dir guttun.«
    »Ja«, murmelte sie, ohne zu überlegen, legte die Tablette auf die Zunge und spülte sie runter. »Ein Bad wäre schön.«
    Eine knappe Viertelstunde später stand sie nackt im Dunst des heißen Wassers. Der Schmerz pochte dumpf in den Tiefen ihres Bewusstseins, ebenso wie all ihre Fragen und Befürchtungen.
    Die Tablette hatte die Welt ein Stückchen leichter gemacht.
    Der Geruch von Tannennadeln umgab sie, und zusammen mit der erdigen Note, die Tommi verströmte, hatte sie für einen winzigen Augenblick das Gefühl, lebendig begraben zu sein.
    Er schloss die Tür und deutete mit hochgekrempelten Hemdsärmeln auf die Wanne. Seine Arme waren sogar bis weit oberhalb der Ellenbogen mit Farbe beschmiert.
    Dicker Schaum quoll über den Rand, und aus dem Hahn quälten sich ein paar letzte Tropfen Wasser.
    »Ist die Temperatur angenehm?«
    Lillian ging zur Wanne, strich mit einer Hand durch das Wasser und nickte.
    »Die Wärme wird dir guttun.« Er setzte sich auf die Toilette und beobachtete, wie sie vorsichtig in das Wasser stieg.
    Die Hitze drang durch jede Pore ihres Körpers wie Wasser in die Lungen eines Ertrinkenden. Lillian entspannte sich, dachte nicht an Tommi, der neben ihr saß und die Augen nicht von ihr lassen konnte. Sie dachte auch nicht an das Vergangene oder an das, was noch kommen würde. All das war nicht greifbar und daher unwichtig. Die Schmerzen waren fort, die Kälte war fort, und die Ungewissheit, die sie in den letzten Stunden immerzu begleitete, wurde bedeutungslos.
    Sie strich mit den Händen über ihre Beine, ihre Arme, fuhr sich durch das Gesicht. Sie wünschte sich weit, weit weg und war doch froh, genau hier zu sein. Das war

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