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Papa

Papa

Titel: Papa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven I. Hüsken
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Staat in Ordnung hielten. Einer dieser Helfer war ich.
    Eine Königin für die Ewigkeit. Das war meine Mutter, und ihre Hand sorgte dafür, dass meine Brüder und ich nicht wagten, etwas anderes zu denken.
    Meine Zeit kam abends in meinen Träumen. Da konnte ich die Fesseln ablegen, die ich tagsüber zu erdulden hatte. Ein Kind sollte solche Sachen nicht träumen. Und doch war es für mich eine Erlösung. Ich war der Held, der das Königreich befreite. Ich kann mich kaum erinnern, wie viel Tode meine Mutter gestorben ist. Ich habe mich nie dafür geschämt, aber ich habe es nie jemandem erzählt. Meine Kindheit bestand aus Rachegelüsten, weil ich zu feige und zu schwach war, ihr in der Realität gegenüberzutreten.
    Als Kind nimmt man die Dinge als gegeben hin. Man hinterfragt nicht. Heute weiß ich, dass der Widerstand in meinem Unterbewusstsein weitergewuchert ist wie ein Krebsgeschwür – und dass er ebenso tödlich war.
     
    Michelle ließ das Buch sinken. Es war schwer, das Gelesene mit ihrem Exmann in Verbindung zu bringen. Er hatte ihr nie davon erzählt.
    Ja, seine Mutter war nicht das, was man eine nette Schwiegermutter nennen würde. Und Tom hatte es sicherlich nicht leicht gehabt in der Kindheit, aber das hier war doch wohl eher der launische Tagebucheintrag eines beleidigten Kindes. Das Geschilderte war so weit weg von dem, was sich Michelle vorstellen konnte, dass sie nicht in der Lage war, es realistisch zu bewerten.
    Und wenn sie ehrlich zu sich war, wollte sie es auch nicht. Wen interessiert es schon, warum ein Schwein ein Schwein ist? Wichtig ist doch nur, dass es am Ende geschlachtet wird.
    Michelle blätterte weiter. Noch stand da nichts über eine Chinesin. Sie musste sich beeilen. Lilly war schon so viele Stunden in seinen Händen. Gott, welche Todesängste sie wohl auszustehen hatte? War sie in einem Zimmer? In einem Verlies, oder Schlimmeres? Sie mochte es sich nicht vorstellen. Würde sie es zulassen – das war ihr vollkommen klar –, würde es sie innerlich zerreißen. Niemand sollte so etwas durchmachen müssen. Sie nahm sich zusammen, um nicht laut loszuschreien, und las weiter.
     
    Im Grunde war es nur eine Frage der Zeit, bis Vater so gebrochen war, dass ihm die Familie egal wurde. Er litt jeden Tag mehr und redete selten.
    Ich selbst war zu jung, um zu begreifen, was auf unserem Hof passierte. Was ich weiß, weiß ich von meinen Brüdern.
    Meine Mutter war eine hübsche Frau, und ein paar unserer Arbeiter waren über Ablenkung nicht böse. Während mein Vater auf dem Feld arbeitete, ließ sie sich von ihnen bedienen. Sie gab sich nicht mal mehr die Mühe, es vor Vater geheim zu halten.
    Eine Scheidung kam für beide nicht in Frage. Viel zu katholisch war der Ort, und viel zu abhängig waren beide von der Gemeinde.
    Als mein Vater dann die erste Diagnose bekam, war an Scheidung sowieso nicht mehr zu denken. Doch obwohl es eine Chance für meine Mutter war, alles wiedergutzumachen, kapselte sie sich noch mehr ab.
    Wenn einer meiner Brüder oder ich mit ihr darüber sprechen wollten, rastete sie regelmäßig aus.
    So eine Atmosphäre war ein prächtiger Nährboden für meine Wut. Mit 15 reichte wenig aus, um mich auf hundertachtzig zu bringen. Ich glaube, zu dieser Zeit hatte ich meine ersten echten Mordgelüste. Die Vorstellung, der Königin die Luft abzudrehen, ihr das Leid vor Augen zu führen, das sie der Familie antat, war erregend. Damit meine ich richtig erregend.
    Klassische Konditionierung. So funktioniert der Mensch. Es ist ein Prozess. Etwas, das man nicht steuern kann. Etwas, das man nicht vorhersehen kann. Man kann es nicht an einem Ereignis festmachen, und letztendlich kann ich nicht einmal meiner Mutter die Schuld dafür geben.
    Ihre Schuld lag woanders. Sie war einfach nur eine schlechte Ehefrau, die ihre eigenen Gelüste über das Wohl der Familie stellte.
    Irgendwann konnte mein Vater nicht mehr arbeiten. Er hatte oft Schmerzen, blutete manchmal stark. Vielleicht war das bereits der Anfang vom Ende.
    Für meine Mutter war das nur ein Grund, mich und meine Brüder weiter anzutreiben. Uns mehr arbeiten zu lassen. Uns einzureden, welche Schuld wir ihr gegenüber hatten.
    Nächtelang habe ich oft wachgelegen und zugehört, wie mein Vater vor Schmerzen geschrien hat. Manchmal war die Königin einfach zu beschäftigt.
    Irgendwann hatte der Krebs seinen Körper vollständig zerfressen. Nicht einmal mehr Morphium half, und seine grauenhaften Schreie höre ich auch heute noch,

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