Papa
achten, verschwand sein Kopf hinter einer Zeitung.
Michelle war nervös. Sie konnte ihre Hände kaum ruhig halten, während sie in dem kleinen Zwischenraum der Besucherschleuse auf und ab lief. Ein Aushilfsjobber, der sich ganz stark fühlt, hatte ihr heute noch gefehlt. Sie stand kurz davor, Maiks Dienstpistole zu nehmen und die Zeitung des Pförtnerjungen zu durchlöchern.
Maik kraulte seinen Bart und lehnte sich gegen die große Glasscheibe, hinter der sich der Pförtner offenbar sicher fühlte. »Also schön, Sie wollen doch ganz bestimmt diesen Job noch eine Weile machen, oder?«
Der Pförtner knickte eine Ecke der Zeitung um und schaute darüber hinweg.
»Sehen Sie, das dachte ich mir. Ich bin von der Kriminalpolizei und muss Frau Dr. Kramme ein paar Fragen stellen. Wenn Sie mir den Eintritt verwehren, bin ich berechtigt, mir mit Gewalt Zugang zu verschaffen. Ich glaube, dass die Klinikleitung über einen Einbruch der Polizei nicht erfreut wäre, vor allem, wenn sie das in der Presse lesen würden. Für Außenstehende sähe das so aus, als wollte die Klinikleitung etwas verbergen, und wessen Schuld wäre das? Genau. Ihre.« Maik hob desinteressiert die Schultern. »Ihre Entscheidung. Nur sollten Sie sich beeilen. Ich bin kein geduldiger Mensch.«
Zehn Minuten später saßen sie mit Kramme in einem der Behandlungsräume. Michelle fühlte sich unwohl, immerhin hatten sie sich mit einer Lüge Eintritt verschafft. Maik riskierte für sie seinen Job.
Maik war dicht an sie herangerutscht, was sie noch nervöser machte. »Wenn Sie durch die Informationen das Leben eines vierzehnjährigen Mädchens retten können, unterliegen Sie nicht der Schweigepflicht. Langsam machen Sie mich wirklich wütend, Frau Kramme.«
»Dr. Kramme.« Ihr Kopf zuckte, als hätte sie einen Tick. Man sah ihr an, dass sie überrumpelt wurde.
Maik erhob sich, beugte sich über sie, und seine Hand prallte hart neben ihr gegen die Stuhllehne, so dass sie aufschrie. »Es reicht mir. Ich will Rieds Unterlagen. Sie haben ihn doch interviewt. Ich will diesen Serienkiller verstehen. Wie wurde er zu so einem Monster? Was war der Auslöser? Was treibt ihn an? Warum ist er so brutal zu seinen Opfern?« Seine Stimme schwoll an. »Holen Sie die verdammten Unterlagen her!«
»Das wird ein Nachspiel haben, Herr Wegener.«
»Die Unterlagen, Frau Kramme«, sagte er mit Nachdruck.
Michelle entging nicht, wie nah die ganze Sache auch ihm ging. Der sonst so schweigsame Teddybär war zu einem Wolf geworden. Und um sein Rudel zu schützen, riss er alles in Fetzen, was ihm in den Weg kam. Für einen Moment fühlte Michelle sich sicher.
Krammes Lippen wurden zu zwei dünnen Linien. »Ich hole die Unterlagen«, presste sie hervor, stand auf und ging.
Ein paar Minuten später kam sie mit einem Pappkarton wieder.
Noch eine Kiste, in der Toms und ihre Vergangenheit vermoderte.
Kramme stellte den Karton auf den Tisch, öffnete ihn und zog nach kurzer Suche ein Videotape heraus. Im Raum stand ein fahrbares Regal mit einem Fernseher und einem Videorekorder. Dorthinein schob sie die Kassette.
Der Bildschirm schaltete sich automatisch ein, und langsam baute sich ein verrauschtes Bild auf.
»Bei dieser Sitzung erzählt Herr Ried etwas über seine Kindheit. Aus verhaltenspsychologischer Sicht wird hier deutlich, wo seine Störung ihren Ursprung hat.«
Das Rauschen verschwand, und es war der Raum zu sehen, in dem sie sich gerade befanden. Dr. Kramme saß dort, wo sie jetzt auch saß; Tom Ried hatte auf Michelles Stuhl Platz genommen. Unwillkürlich stand sie auf.
Die Kramme war in ein Klemmbrett vertieft, das sie in der Hand hielt. Ihre Stimme war abgeklärt und – für Michelles Geschmack – zu arrogant. »Herr Ried. In der letzten Sitzung haben wir über Ihr Leben als Junggeselle gesprochen. Heute möchte ich weiter in die Vergangenheit gehen. Erinnern Sie sich an etwas Schönes, das Sie erlebt haben?«
Tom starrte geradeaus, als liefe dort ein besonders guter Film, nur dass damals kein Fernseher im Raum stand. Seine Stimme war leise. »Wissen Sie eigentlich, dass Schweine fürchterlich schreien können? Ja, sie können schreien wie Kinder. Besonders wenn sie spüren, dass der Tod nah ist. Ich war zwölf, als ich es das erste Mal hörte. Schlaftrunken glaubte ich, einer meiner Brüder wäre in den Drechsler gefallen, doch der Schrei breitete sich aus, teilte sich und erklang schließlich aus gut einem Dutzend Mäulern. Die Schweine waren in
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