Papa
Exmann ins Gefängnis gebracht hat. Das reicht.«
»Ein Versehen, mehr nicht.«
»Ein Versehen?« Michelles Kopf leerte sich schlagartig. Jeder Gedanke entglitt ihr.
»Ihr Exmann, Michelle Kettler«, die Chinesin beugte sich nach vorne, »ist, sagen wir, anders als andere. Ich habe hier mit vielen Männern zu tun. Extremen Männern mitunter. Doch Ihr Mann ist ein ganz besonderes Exemplar. Es wundert mich, dass er die Angebote meiner Organisation nicht beansprucht hat. Er stand genau dort, wo Sie jetzt stehen«, sie deutete auf den Bruchsteinboden. »Er wirkte allerdings weniger nervös, und er hat mir seine Phantasien ausführlich beschrieben. Exzessive Phantasien, wenn ich so sagen darf. Hat er sie mit Ihnen geteilt?«
Michelles Fingerspitzen schmerzten. Erst jetzt bemerkte sie, wie sie ihre Finger krampfhaft zu einer Faust ballte. »Sie haben ihn genauso gehasst wie ich.«
»Merkwürdig«, Ya-Long lehnte sich zurück. »Sie haben nicht gefragt, welchen Ihrer Ex-Ehemänner ich gemeint habe. So funktioniert unser Verstand. Wir basteln uns eine eigene Realität aus den Versatzstücken unseres Wissens.«
»Maik hat mit der Sache nichts zu tun.«
Ya-Long leckte sich die Lippen und setzte sich aufrecht hin. »Doch, das hat er. Mehr, als Sie ahnen. Aber Sie haben recht. Im Augenblick geht es um Tom. Ob ich ihn gehasst habe? Zumindest kann ich behaupten, dass ich ihn nicht geliebt habe. Dass ich nicht das Bett mit ihm geteilt habe. Hat er Sie glücklich gemacht, Michelle? Im Bett?«
Michelle ging über die Frage hinweg. »Er wollte Sie umbringen. Ich dachte, Sie würden sich rächen wollen?«
»Erst Hass, jetzt Rache? Michelle, Sie wollten etwas von mir. Was ist es?«
»Ich will Sie warnen. Tom ist aus der forensischen Psychiatrie geflohen. Er wird Sie suchen. Er wird Sie finden, und er wird Sie töten. Ich wollte, dass Sie das wissen, das bin ich Ihnen schuldig.«
Ya-Long legte die Fingerspitzen zusammen. »Hass, Rache, Schuld. So viel Dramatik! Aber für ein echtes Drama fehlt die richtige Kulisse. Dafür ist dieser Raum ungeeignet. Wie gesagt, es gibt für jede Gelegenheit den passenden Raum.« Sie stand auf, schob die Sonnenbrille nach oben und deutete auf eine Tür. »Bitte sehr, ich zeige Ihnen das Theater, wo sich die wirklichen Dramen abspielen.«
Zögernd folgte ihr Michelle.
Im Raum nebenan zweigten weitere Räume ab. Der großräumige Keller war ein Labyrinth. Michelle schätzte, dass sogar die Kellerflächen der Häuser rings um das Restaurant genutzt wurden. Ya-Long P’ans Organisation hatte Geld und Macht, und was Michelle hier tat, war ganz und gar dämlich.
Doch nun gab es kein Zurück mehr.
Für jede Gelegenheit einen passenden Raum. Ya-Long hatte das wörtlich gemeint. Das Kellerkonstrukt, durch das sie gingen, unterlag einer bestimmten Ordnung, die sich Michelle jedoch nicht erschloss. Es schien keinen Hauptkorridor zu geben. Man hatte einfach die Mauern zwischen den Kellern durchbrochen.
Die Decken waren niedrig, die Wände bestanden aus feuchtem Sandstein. In Bodennähe war die weiße Farbe oft schwarz gesprenkelt, und an vielen Stellen mischten sich Stockflecken mit bloßem Stein. Hier unten sparte man sich das Renovieren. Ein Gefühl von
Lebendig-begraben-Sein
hüllte Michelle ein und fraß ihre Zuversicht bis auf die blanken Knochen.
Die meisten Zimmer, an denen sie vorbeikamen, waren geschlossen; nur ein paar standen offen. Michelle sah nicht viel, aber es reichte, um ihre Phantasie anzuregen. Eines der Zimmer war kunterbunt eingerichtet, wie in Bonbonpapier gewickelt. Der Boden war mit abwaschbaren Matten ausgelegt, in einer Ecke stand eine Popcornmaschine neben einer Schaukel und einer Rutsche. Seile baumelten von der Decke, und auf einem riesigen Bildschirm liefen Trickfilme.
Ein anderes Zimmer war dagegen deutlich spartanischer. Rostige Metallstreben an den Wänden ließen es wie einen Kerker erscheinen. Ein Holzstuhl mit dunkelbraunen Flecken stand in der Mitte, fest am Boden verschraubt. Der Geruch, der aus dem Zimmer drang, erinnerte Michelle an das Altenheim, in dem ihre Mutter die letzten Monate ihres Lebens verbracht hatte.
Ein weiteres Zimmer hätte Michelle gefallen, wenn sie nicht gewusst hätte, für was es gebucht wurde. Ein Himmelbett stand in der Mitte. An den Wänden hingen schwere Vorhänge. Von der Decke baumelte ein Kronleuchter.
Ya-Long ließ sich nicht beirren und führte sie tiefer in die Katakomben. Vorbei an einem Raum, in dem lediglich ein Holzfass
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