Paperboy
Fachliteratur gesäumten Regalwände, als sei sie auf der Suche nach einem Buch.
Der alte Mann setzte sich ans Kopfende des Tisches und beobachtete sie. »Sie ist die Fotografin, stimmt’s?« fragte er.
»Das ist Charlotte Bless, Mr. Pine«, sagte mein Bruder. »Sie schrieb Ihnen, dass wir kommen.«
Der Anwalt sagte: »Ja, sicher, natürlich!« und lächelte Charlotte an. Sie setzte sich, ohne sein Lächeln zu erwidern. Weldon Pine lehnte sich zurück, verschränkte die Hände im Nacken und schloss die Augen.
»Meiner Erfahrung nach«, sagte er, »ist es bei dieser Art Unterfangen das Beste, wenn man mit dem Anfang beginnt.« Wieder folgte eine lange Pause, in der er sich zu sammeln schien.
»Ich wurde 1897 in diesem County als Sohn armer Eltern geboren. Meine Mutter war Französin, mein Vater Deutscher. Meine Schulbildung war recht lückenhaft, aber in meinen Augen durchaus mit dem zu vergleichen, was meine Alterskameraden unter der Fuchtel staatlicher Schulen erleiden mussten. Man brachte mir die Bedeutung logischen Denkens bei, was mir in all den Jahren gute Dienste leistete, seit …«
Weldon Pine hielt plötzlich inne, sah vor sich auf den leeren Tisch, stand dann auf, verließ das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Wir blieben sitzen und sahen uns an, sagten aber kein Wort. Einen Augenblick später war er wieder da, etwas außer Atem, in der Hand ein Familienalbum. Es schien schwer wie ein Sandsack. Der Ledereinband war uralt und trocken und knarzte, als das Buch aufgeschlagen wurde.
»Hier«, sagte er und tippte mit dem Finger in das Album, »meine Mutter. Wie Sie sehen, war sie Französin.« Der Finger war so breit und rissig, als gehörte er zur Hand eines Bauern. Charlotte rückte einige Zentimeter vor, um besser sehen zu können, da sie die Fotos vermutlich gern für ihre Akten gehabt hätte, doch sonst rührte sich niemand. »Ich fürchte, die Qualität ist nicht besonders«, sagte er. »Was haben Sie für eine Druckerpresse? Die
Palm Beach Post
macht ganz gute Fotos, aber die hat Offsetdruck.« Er schlug eine Seite um. »Dies sind mein Vater und sein Bruder.« Er lächelte sie an. »Deutsche«, sagte er, als wäre das ein Witz, den wir alle verstünden.
»Mr. Pine«, sagte Yardley Acheman, »glauben Sie nicht, wir könnten die nächsten fünfundsechzig Jahre überspringen und uns allen ein wenig Zeit sparen?«
Der alte Mann sah auf, den Finger noch immer unter dem Bild von seinem Vater und seinem Onkel. Er blinzelte.
»Neunzehnhundertfünfundsechzig«, sagte Yardley Acheman. »Hillary Van Wetter …«
Der alte Mann schaute wieder ins Album, er schien nicht zu verstehen. »Das war kein bedeutsamer Fall«, sagte er schließlich. »Und er trägt nichts Interessantes zur Geschichte bei.«
»Er ist die Geschichte«, sagte Yardley Acheman langsam.
Und wieder folgte eine Pause, in der der Anwalt das Gesagte zu verdauen schien. »Wir haben Ihnen einen Brief geschrieben und unser Kommen angekündigt«, sagte Yardley Acheman. »Sie waren damit einverstanden, ein Treffen mit ihm zu arrangieren.«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Ich hätte dem niemals ohne Erlaubnis meines Klienten zugestimmt«, sagte er. »Wie jeder andere Mensch hat auch er ein Recht auf seine Privatsphäre.«
»Sie haben Mr. Van Wetters Erlaubnis«, sagte mein Bruder leise, und der alte Mann drehte sich zu ihm um. Er sah aus, als würde er gegen eine Meute von Hunden ankämpfen. »Er hat Ihnen geschrieben, eine Kopie dieses Briefes lag unserem Schreiben bei.«
Weldon Pine klappte der Kiefer herunter. »Das muss ich erst überprüfen«, sagte er. Wieder schaute er auf das Bild von seinem Vater und seinem Onkel, den beiden Deutschen, und schloss dann widerwillig das Album.
»Der Brief dürfte bei Ihren Akten liegen«, sagte mein Bruder.
Der alte Mann schaute ihn an und schaltete auf Durchzug. »Das behaupten Sie, aber ich habe einen Klienten zu schützen.« Er sah sich noch einmal auf dem Tisch um, ließ den Blick einen Moment lang auf Charlotte Bless ruhen und setzte dann ein geübtes Lächeln auf. »Wäre das alles?«
»Mr. Pine«, sagte mein Bruder im selben leisen Ton, »Mr. Van Wetter hat uns im Rahmen unserer Recherche für einen Zeitungsartikel gebeten, seinen Fall zu überprüfen. Zu diesem Zweck hat er Sie angewiesen, uns Einblick in alle relevanten Akten zu gewähren und Gespräche zwischen uns und Mr. Van Wetter sowie mit allen interessierten Parteien zu erleichtern.«
»Mit interessierten Parteien«,
Weitere Kostenlose Bücher