Paperboy
Gefängniskomplex und die umliegenden weiten, offenen Flächen. Er arbeitete bereits an seinem Text. Ein halbes Dutzend Gefangene stand in einiger Entfernung in Gräben entlang der Straße und machte sich mit schwingenden Sicheln über das Unkraut her. In seinem Text würden daraus dreißig Mann werden.
Am Tor stand derselbe Wachposten, und er schien uns wiederzuerkennen. Er schaute in den Wagen, musterte zuerst Charlotte, dann Ward und Yardley Acheman auf der Rückbank, dann wieder Charlotte.
»Geradeaus bis zum Verwaltungsgebäude«, sagte er und starrte auf ihre Beine.
HILLARY VAN WETTER wurde in Fußschellen von einer Wache ins Zimmer gebracht, und der Gefängnisgeruch von Desinfektionsmitteln begleitete ihn. Der Wachposten hielt den Gefangenen an einer Kette, die seine Taille umschloss und an den Fußschellen befestigt war. Kaum hatte er die Tür geöffnet, deutete er auf einen leeren Stuhl, der einsam in der Mitte des Raums stand.
Hillary Van Wetter ging so ungezwungen darauf zu, als wären ihm Kette und Fußfesseln nicht hinderlich. Dann ließ er sich auf den Stuhl niederdrücken, als würde er die Hände der Wache auf seiner Schulter nicht spüren. Als wäre ihm die Wache völlig egal.
»Fünfzehn Minuten«, sagte die Wache. »Kein körperlicher Kontakt, keine Tonbandaufnahme, dem Gefangenen dürfen keine Gegenstände übergeben werden.« Er schwieg einen Augenblick und sah uns der Reihe nach an. »Ich stehe gleich dort hinter der Tür.«
Hillary Van Wetter saß auf seinem Stuhl und wartete. Er nickte Charlotte kurz zu, sagte aber nichts. Sie erwiderte sein Nicken.
»Mr. Van Wetter«, sagte mein Bruder, »mein Name ist Ward James …«
»Sie sehen aus wie auf dem Foto«, sagte er.
Sie strich ihr Kleid glatt, eine inzwischen vertraute Geste, und errötete, was uns keineswegs vertraut war. »Danke schön, sollte ich da wohl sagen«, erwiderte sie.
»Das hier ist Yardley Acheman«, sagte mein Bruder, aber Hillary Van Wetter würdigte Yardley Acheman und meinen Bruder keines Blicks. Er starrte Charlotte an, als wollte er sie fressen.
»Sind das die Zeitungsjungen?« fragte er.
Sie nickte, und uns Übrigen kam es so vor, als säßen wir nicht im selben Zimmer. »Und was können die Gutes für uns tun?« fragte er.
Sie schaute rasch zu meinem Bruder hinüber. »Sie retten«, sagte sie.
Er dachte darüber nach, ließ sich Zeit, und sein Blick ruhte ebenso lange auf mir wie auf meinem Bruder und auf Yardley. Dann wandte er sich wieder an Charlotte.
»Die können sich selbst nicht mal retten«, sagte er.
»Sie können helfen«, sagte sie. Ihre Stimme klang ein wenig hilfloser als zuvor.
Ungeduldig wandte Yardley Acheman den Blick ab und besah sich das kleine, runde Fenster in der Tür. Drähte durchzogen das Glas.
»Wen haben die denn schon gerettet?« fragte Hillary Van Wetter.
»In Miami sind sie ziemlich bekannt«, sagte sie.
Hillary Van Wetter drehte sich zu Yardley und sah sich an, wie man aussah, wenn man in Miami ziemlich bekannt war. Etwas wie ein Lächeln zog über Van Wetters Gesicht und verschwand gleich darauf wieder.
»Wen habt ihr Zeitungsjungen also schon gerettet?«
Yardley Achemans Blick wanderte rasch über die Wände zur Decke. »Haben Sie eine Wahl?« fragte er.
Jetzt lächelte Hillary Van Wetter. Das Lächeln warf sein Gesicht in Falten und zog die Lippen über die Zähne, bis man sein Zahnfleisch sehen konnte. »Das gefällt mir«, sagte er.
»Auf dem College gewesen?« fragte er und sah jetzt mich an. Vor meiner Exmatrikulation hat es auf dieser Welt kaum Menschen gegeben, die mich irgendwann gefragt hatten, ob ich aufs College ging, aber in letzter Zeit passierte mir das dauernd. Ich nickte fast unmerklich, ich wollte mich nicht weiter darauf einlassen.
Plötzlich kam mir der Gedanke, dass ich – wäre ich mit Hillary Van Wetter allein in diesem Raum – ihm vielleicht erklären könnte, was geschehen war. Er mit seinem kriminellen Verstand hätte es womöglich begriffen.
»Und? Auch ziemlich bekannt in Miami?« fragte er.
»Nein«, sagte ich, »ich fahre nur den Wagen.«
Er nickte, als ergäbe das einen Sinn. »Der Fahrer des Fluchtautos«, sagte er und lachte. Und dann nach einer langen Pause: »Schon mal jemanden gerettet?«
Da drehte sich mein Bruder um und sah mich an.
»Ja, ich habe mal jemanden gerettet«, sagte ich.
Hillary Van Wetters Blick ruhte auf mir. Er wartete, und ich erinnerte mich an die Augen des anderen Van Wetters, an den, der jetzt tot war.
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