Papierkuesse
ab 23. 2. fand ich schnell mein Gleichgewicht und anschließend eine Art Glück. Aus dieser Harmonie wurde ich am 28. Oktober plötzlich herausgerissen, in meine Zivilsachen gesteckt und nach »Unbekannt« auf Transport geschickt. Ich kam auf das Polizeipräsidium am Alex, wo ich rund zehn Tage blieb. In einem Riesensaal zwischen ca. 3oo Menschen fand sich schnell ein kleiner Kreis von zehn geistesverwandten Kameraden; wir haben am Abend Vorträge veranstaltet, debattiert – und nicht zuletztdurch die Vermittlung des Stubenältesten recht gut und viel gegessen. Welch Kontrast zur Zelleneinsamkeit des mönchischen Brandenburgs! Am 7. ll. kam aus heiterem Himmel die Mitteilung:
P. M. wird
entlassen
! In die Freiheit? Ich mit meinen sechs Jahren Zuchthaus sollte nach 54 Tagen die Freiheit wieder sehn? Die Enttäuschung kam auch recht bald. Man brachte mich in die Große Hamburgerstraße 26 (ein ehemaliges jüdisches Altersheim), das jetzt als Evakuierungslager eingerichtet ist. Also statt Freiheit hieß es: Ab nach Polen! Aber auch hier war ich wieder bald zuhause. Nette Menschen, die mich mit ihrer Liebe förmlich eindeckten, relativ große Freiheit (für Stimmung sorgte schon ich) und reichliches Essen, das neue mir unbekannte Miliö brachte mich auf neue Gedanken. 35 Tage bin ich hier, ohne zu wissen, was mit mir geschieht. Zwei Transporte sind bereits abgefahren, und aus beiden wurde ich ausgeschieden. Teils weil ich Ungar bin, teils weil ich durch meine Ehe mit einer Arierin mit zwei Mischlingskindern ersten Grades nicht evakuierbar bin. Wäre meine Zuchthausstrafe nicht, hätte man mich sogar auf Grund dieser beiden Tatsachen freigelassen. So aber warte ich aufs Ungewisse. Habe sicher zehn Pfund zugenommen, mein Haar ist wieder gewachsen und mein heiterer Gleichmut feiert Triumphe. Mit buddhistischem Lächeln sehe ich tausend Schicksale vor meinen Augen entstehen und vergehen, Hoffnungen zerschellen, Verzweiflungen sich zum Wahnsinn überschlagen und stehe unberührt, fast kalt und jedenfalls sicher wie einer, der alles Leid und alle Angst bereits in seinerSeele umgeformt hat zu einem Sein jenseits aller Entscheidungen weltlicher Behörden, jenseits der Zeitrechnung und Tagesgeschehnisse. So wird man stark, strahlt Kraft aus und hilft vielen, führend und doch unberührt von fremdem Leid. Und eigenes? Ich habe kein Leid! Ihr drei seid für mich Glaube und Sehnsucht, Traum und Wirklichkeit. Ich habe oft das Gefühl, als ob ich mit all meinen Kräften schaffen müsste, um Euch vor der Erkenntnis dieser hässlichen Welt zu schützen, als ob ich alles sehn und erleben müsste, damit Ihr verschont bleibend den Glauben an diese Welt nicht verliert. Denn ich trage alles leicht, und das Zehnfache kann ich auch ertragen. Nur der Gedanke quält mich:
Wo seid Ihr? Warum habt Ihr kein Telephon? Hat es Euch auch getroffen? Dieser Brief ist auf illegalem Weg zu Euch gelangt. Offiziell gibt es keine Post nach hier und von hier. Aber versuchen Sie es: gehen Sie zur Burgstraße 30, Zimmer 306, Kommissar Starke, und bitten Sie um Sprecherlaubnis mit mir. Wer weiß, wie lange ich noch hier bin. Ich liebe Euch und lebe mit Euch und vergesst mich nicht, Küsse von Papa.
[23]
(per Adresse Marlene Poelzig, ohne Datum)
Liebe Frau Marlene!
Ich wünsche Euch ein frohes Fest und ein gutes neues Jahr! Anschließender Brief, den ich Dich zu lesen bitte, ist an Franzi, der ich schon vor Weihnachten per Boten einen Brief sandte und mit Schrecken vernahm, dass meine Familie nicht mehr in der Knobelsdorffstraße wohnt. Ich bitte Dich daher, diese Zeilen so schnell wie irgend möglich zur Franzi gelangen zu lassen. Mehr noch bitte ich Dich! Für den Fall, dass die Meinen nicht in Berlin sind, so flehe ich Dich an, das, was ich Franzi bitte, selbst auszuführen, d. h. mich zu besuchen (etwas was
ganz
ohne Gefahr ist) für mich aber von lebenswichtiger Bedeutung ist.
Ich grüße Euch mit herzlicher Liebe P. M.
Liebe Franzi!
Mein letzter Brief, der etwa am 20. 12. an Euch ging, brachte auch den Abschied von der Großen Hamburgerstraße. Ich wurde aus dem Evakuierungslager entlassen und zog wieder über die Burgstraße nach dem Alexanderplatz. Dort landete ich in einem Saal von 12o Mann, dessen Stubenältester (ein Ufa Direktor) in Holland lebte und intimer Freund von Mart Stam 26 war. Es ging mir daher recht gut! Gott, es geht mir ja immer gut. Im Saal herrschte zwar ein aristokratisches System mit scharfer Trennung derer, die
Weitere Kostenlose Bücher