Papilio Mariposa
Raupe eins? Weiß er,
daß sie sein vormaliges Ich ist? Blickt er nicht auf sie als etwas
Häßliches und Fremdes? Und wird es mir, selbst wenn
mein Wagnis glückt, nicht ebenso ergehen? Wird mir die
Menschheit nicht als etwas Fremdes, feindselig Häßliches erscheinen?
Wenn meine Rechnung stimmt — fünfzigmal habe ich sie
nachgeprüft —, wird es ein Jahr währen, ehe ich verwandelt
bin. Dann wird entschieden sein, welche der drei Möglichkeiten
zur Wirklichkeit wurde.
Darum habe ich verfügt, daß dieser Brief nach einem Jahr
an Sie gelange.
Wenn ich die Metamorphose nicht lebend überstehe, dannwerden Sie mir die Erfüllung einer letzten Bitte nicht versagen
und für die Bestattung dessen sorgen, was noch von mir
vorhanden ist. Wo Sie mich finden, will ich Ihnen sagen.
(Nun folgt eine Beschreibung des geheimen Raumes, den ich
letzthin entdeckte.) Wahren Sie, auch wenn ich tot bin, mein
Geheimnis. Ich will nicht im Gedächtnis eines Narren sterben.
Gelingt mein Unterfangen, dann soll’s die ganze Welt vernehmen
als eine Freudenbotschaft, und Sie werden der erste
sein, dem ich als lichter Genius erscheine.
Mißlingt es, werde ich zum Tier, zu einem Feind der Menschen,
dann sorgen Sie dafür, daß man mich rasch und ohne
Qualen töte.
Empfangen Sie die letzten Freundesgrüße des Menschen
Mariposa.«
Ich las und las sie immer wieder, die ungeheuerliche
Botschaft, ergriffen, ja verstört. Es tönte mir daraus
entgegen wie Geistergruß, wie eine Stimme aus dem
Jenseits, erschreckend und verheißend. Zwiespältige
Gefühle bewegten und bedrückten mich: Bewunderung
und Mitleid, Sehnsucht und Grauen.
Was ist aus meinem Freund geworden? Ein lichter
Genius? Oder ein Unhold, ein gespensterhaftes Halbtier?
U m meine Sorgen zu übertäuben,
stürzte ich mich mit umso größerem Eifer in
meine berufliche Arbeit und hatte umso größeren
Erfolg. Wenn der Wind um unsere Ohren bläst, wenn
wir im Kampf um Gut und Ehre scharf achten müssen
auf den Kurs des sturmgetriebenen Schiffes, dann hörenwir nicht den düsteren Sirenensang des Unbegreiflichen,
und vor der Sonne des sichtbaren Erfolges zerflattern
die Nebelschwaden übersinnlicher Geheimnisse.
Unversehens betraute man mich mit einer Vertretung
vor dem österreichisch-italienischen Schiedsgericht
in Rom, so daß ich sogleich abreisen mußte.
Mein Zug ging um neun Uhr abends ab. Bis zum
Schlafengehen waren also noch zwei gute Stunden. Ich
nahm meine Akten zur Hand und las sie nochmals
durch.
Als dies geschehen war, zündete ich mir eine Zigarre
an und überließ mich meinen Gedanken. Über Désirées
Verschwinden urteilte ich jetzt schon etwas ruhiger.
An eine Wandlung ihrer Gefühle konnte ich nicht
glauben. Ich teilte die Ansicht Professor Möllers, daß
sie unter dem Zwang des Menschenfalters stand. Sie ist
krank, und wenn sie wiederum genesen ist, kehrt sie zu
mir zurück. Aber wird sie genesen, wird es gelingen, sie
zu heilen?
Warum erschien uns Mariposa in seiner neuen Gestalt?
Um sich mir mitzuteilen? War ihm Désirée verfallen,
ohne daß er’s wollte? Oder war er nur gekommen,
um sie mir zu rauben?
Ich überdachte sein vormaliges Leben, seine beharrlichen
stummen Werbungen um Désirée, das heimliche
Lauern vor ihrem Haus, als er das letztemal in
Wien war. War diese Anbetung hoffnungslos, diese
Liebe selbstlos gewesen? Oder hatte er schon damals
den Plan gefaßt, sie zu erobern, aber — seiner Ohnmacht
bewußt — weit ausschauend gewartet, bis sich
durch seine Verwandlung die Ohnmacht in Übermacht
wandle?
Wie vertrug sich dieser Treubruch mit seiner Freundespflicht?
Regte sich nicht sein Gewissen? Hatte er
menschliche Wertungen verloren? War dies der Dank
für mein selbstloses Bemühen, Désirées Widerwillen
gegen ihn zu zähmen? Wer hätte je gedacht, daß er, der
Gütige, so grausam in mein Leben eingreifen werde!
Bitterer Groll stieg in mir auf.
Vor mir erstanden alle Bilder seiner Erniedrigung
wie er in dem dunklen Gäßchen die höhnenden Dirnen
anbettelte, wie er in der Bar von Désirée zurückgestoßen
wurde. Und jetzt, jetzt war er ein leuchtendes,
beschwingtes Fabelwesen, dessen bloßer Anblick alle
Frauen willenlos in seinen Bann zwang. Welch ein Triumph!
Welch ein ungeheuerliches Schicksal, welch
märchenhafte Wandlung!
Ich zog den Vorhang auf und blickte hinaus zum
Fenster. Es war nach Mitternacht. Wir hatten den
Semmering hinter uns und waren nicht mehr weit von
Graz. Hier irgendwo in der Nähe mußte die Straße
abzweigen
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