Papillon
streichle über die seidenweiche Hand ihrer langen schönen Finger. Sie lacht mit mir über meinen beharrlichen Wunsch, in den Fluß zu springen, wie die großen Jungen, die ich eines Tages auf einem Spaziergang schwimmen sah. Die geringste Einzelheit ihrer Frisur, das zärtliche Leuchten ihrer hellen, funkelnden Augen, ihre sanften unvergeßlichen Worte: »Mein kleiner Riri, sei vernünftig, sehr vernünftig, damit deine Mama dich sehr lieb haben kann. Später, wenn du größer bist, wirst auch du von sehr, sehr hoch in den Fluß springen. Jetzt bist du noch zu klein, mein Schatz. Aber der Tag, an dem du erwachsen sein wirst, wird sehr schnell, viel zu schnell da sein.« Und meine Hand in ihrer Hand, gehe ich mit ihr den Fluß entlang heim … Und nun befinde ich mich wirklich im Haus meiner Eltern. Ich lege beide Hände über die Augen meiner Mama, damit sie die Noten nicht lesen kann und mir trotzdem auf dem Pianino weiter vorspielt. Ich befinde mich wirklich dort, nicht nur in der Phantasie. Ich bin bei ihr, steige auf einen Stuhl hinter dem Drehhocker, auf dem sie sitzt, und strecke weit die kleinen Hände aus, um ihr die Augen zu verdecken. Ihre flinken Finger eilen leicht über die Tasten des Pianinos und spielen die »Lustige Witwe« zu Ende. Weder der unmenschliche Staatsanwalt noch die Polizisten mit ihrer fragwürdigen Anständigkeit, weder der elende Polein, der seine Freiheit um den Preis einer falschen Zeugenaussage verkauft hat, noch die zwölf Käsegesichter, die idiotisch genug waren, der Anklage und ihrer zweifelhaften Auslegung widerspruchslos zu folgen, auch nicht die Posten des Zuchthauses, die würdigen Helfershelfer der »Menschenfresserin«, niemand, absolut niemand, auch nicht die dicken Mauern noch die Abgeschiedenheit dieser einsamen Insel im Atlantik, nichts, absolut nichts, weder etwas Geistiges noch etwas Stoffliches kann mich an diesen köstlichen, in rosige Glückseligkeit getauchten Reisen hindern; kann mich daran hindern, wieder unter den Sternen zu wandeln.
Ich hatte also unrecht, als ich bei der Berechnung der Zeit, die ich mit mir allein verbringen muß, nur an die Stunden dachte. Das war ein Irrtum. Es gibt Momente, in denen man sie nach Minuten berechnen muß. Zum Beispiel wenn nach der Verteilung des Frühstücks am Morgen das Leeren der Eimer beginnt, ungefähr eine Stunde später. Erst wenn die leeren Eimer zurückgebracht werden, finde ich meine Kokosnuß vor, die fünf Zigaretten und manchmal auch einen mit Leuchttinte geschriebenen Zettel. Nicht immer, aber oft zähle ich dann die Minuten. Das ist ganz einfach, denn ich rechne eine Sekunde pro Schritt, und im Moment des Umkehrens, alle fünf Schritt also, zähle ich im Geist: eins. Beim zwölftenmal macht das eine Minute. Doch glauben Sie ja nicht, daß ich Angst davor habe, ob ich die Kokosnuß auch bekomme, die für mich lebenswichtig ist, oder die Zigaretten, dieses unaussprechliche Vergnügen, zehnmal in vierundzwanzig Stunden rauchen zu dürfen (denn ich mache aus jeder Zigarette zwei). Das nicht. Nein. Aber manchmal packt mich beim Frühstück ohne besonderen Grund die Angst, daß den Männern, die für mich ihre Ruhe aufs Spiel setzen, die mir so großzügig helfen, bereits etwas passiert sein könnte … Dann warte ich und bin erst erleichtert, wenn ich die Kokosnuß vor mir sehe. Sie ist da, also ist alles gutgegangen. Für
sie.
Träge, sehr träge gehen die Stunden hin, die Tage, die Wochen, die Monate. Ich bin fast ein Jahr hier. Vor genau elf Monaten und zwanzig Tagen habe ich mich zum letztenmal mit jemandem unterhalten, höchstens vierzig Sekunden lang. In abgehackten Worten, mehr gehaucht als gesprochen.
Ich habe mich verkühlt und huste viel. In der Meinung, daß mich das berechtigen würde, zur Visite zu gehen, trage ich »Blässe« zur Schau.
Der Doktor kommt. Zu meinem größten Erstaunen öffnet sich das Fenster in der Tür, und in der Öffnung erscheint ein Kopf.
»Was haben Sie? Was fehlt Ihnen? Die Bronchien? Drehen Sie sich um. Husten Sie!«
Nein, so etwas! Ist das ein Scherz? Nein, es ist ernst. Es hat sich ein Tropenarzt gefunden, der mich aus fast einem Meter Entfernung durch das Guckfenster untersucht, sich mit dem Ohr voraus durch die Öffnung beugt, um mich abzuhorchen. »Strecken Sie den Arm her«, sagt er dann. Ich strecke wie eine Marionette meinen Arm vor und sage zu dem fremden Mann aus einem Gefühl von Respekt gegen mich selbst: »Danke, Herr Doktor, bemühen Sie sich nicht, es
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