Papillon
bekommen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Warum, glauben Sie, Ihr Gedächtnis verloren zu haben?«
»Was vorbei ist, weiß ich nicht. Gesichter – ja. Zum Beispiel weiß ich, daß Sie mich empfangen haben.
Wann, weiß ich nicht mehr.«
»Dann wissen Sie auch nicht, wieviel Zeit Sie hier noch abzusitzen haben?«
»Bei Lebenslänglich? Bis ich sterbe, natürlich.«
»Aber nein, ich meine doch Ihre Zuchthausstrafe!«
»Ich habe eine Zuchthausstrafe? Warum?«
»Ach – also das ist die Höhe! Herrgott, du bringst mich noch ganz aus der Fassung! Du willst doch nicht behaupten, daß du dich nicht daran erinnerst, daß du für einen Fluchtversuch, oder für mehrere, zwei Jahre Zuchthaus bekommen hast!«
Jetzt bin
ich
sprachlos.
»Für einen Fluchtversuch? Ich? Herr Kommandant, ich bin ein seriöser Mann und imstande, Verantwortung auf mich zu nehmen. Kommen Sie mit mir und sehen Sie sich meine Zelle an, dann werden Sie sehen, ob ich geflohen bin.«
In diesem Moment sagt einer der Posten: »Sie werden aus Royale verlangt, Herr Kommandant.«
Er geht ans Telephon. »Es gibt nichts? Das ist sonderbar. Er behauptet, durch einen Schlag das Gedächtnis verloren zu haben… Die Ursache? Ein Schlag auf den Kopf… Verstehe. Er simuliert. Aus ihm herausholen …
Gut. Entschuldigen Sie, Kommandant. Ich werde der Sache nachgehen. Auf Wiedersehen! Wie? Ja, ich halte Sie auf dem laufenden.«
»Na, du Komödiant, laß einmal deinen Kopf ansehen! Ach ja, da ist eine recht lange Narbe. Wie kommt es, daß du dich daran erinnerst, seit dem Schlag das Gedächtnis verloren zu haben, hm? Sag mir das!«
»Ich kann das nicht erklären. Ich stelle fest, daß ich mich an den Schlag erinnere, daß ich Charrière heiße und noch verschiedenes andere.«
»Hm, was soll man da sagen oder machen?«
»Das ist es ja, was zur Debatte steht. Sie fragen mich, seit wann man mir zu essen und zu rauchen schickt.
Ich kann Ihnen nur sagen: ich weiß nicht, ob es einmal war, oder tausendmal. Weil ich an Gedächtnisschwund leide, kann ich nichts anderes antworten. Das ist alles, Sie können machen, was Sie wollen.«
»Was ich will, ist sehr einfach. Du hast eine Zeitlang zu viel gegessen, du wirst von jetzt an ein bißchen fasten. Abendmahlzeit bis zum Ende der Strafe gestrichen!«
Am selben Tag erhalte ich beim zweiten Kehren ein Briefchen. Leider kann ich es nicht lesen, weil es nicht mit Leuchttinte geschrieben ist. Nachts zünde ich mir eine Zigarette an, die mir noch vom Vortag geblieben ist. Sie ist beim Durchsuchen nicht entdeckt worden, so gut war sie in der Pritsche versteckt. Ich halte die Glut über das Papier, und es gelingt mir, folgendes zu entziffern: »Der Abtrittreiniger hat nichts gestanden.
Er. hat gesagt, daß er dir nur zweimal aus eigenem Antrieb etwas zu essen gebracht hat, weil er dich aus Frankreich her kannte. Niemandem auf Royale wird etwas geschehen. Nur Mut!«
So bin ich also der Kokosnuß, der Zigaretten und der Nachrichten meiner Freunde beraubt. Und obendrein hat man mir das Abendessen gestrichen. Ich war daran gewöhnt, keinen Hunger zu leiden, und die zehn Zigarettensitzungen hatten mich tagsüber und zum Teil auch nachts aufgemöbelt.
Ich denke an den armen Teufel, den sie meinetwegen halb totgeschlagen haben. Hoffen wir, daß er nicht zu grausam bestraft wird… Eins, zwei, drei, vier, fünf – und kehrt… Eins, zwei, drei, vier, fünf – und kehrt. Diese Hungerei wird nicht so leicht durchzustehen sein, vielleicht solltest du daraufhin deine Taktik ändern? Zum Beispiel so lange wie möglich liegenbleiben, um nicht zuviel Energie zu verschwenden? Je weniger ich mich bewege, desto weniger Kalorien verbrauche ich. Bleib tagsüber längere Zeit sitzen! Ich werde mich an eine ganz andere Lebensweise gewöhnen müssen. Vier Monate noch, das sind hundertzwanzig Tage. Wie lange braucht man bei so einer Diät, um anämisch zu werden? Mindestens zwei Monate. Ich habe also zwei qualvolle Monate vor mir. Wenn ich sehr geschwächt bin, werde ich allen möglichen Krankheiten ein herrliches Angriffsfeld bieten. Ich beschließe, abends sechs Stunden und morgens sechs Stunden liegenzubleiben. Vom Frühstückskaffee bis nach dem Absammeln der Eimer, das sind mehr oder weniger zwei Stunden, werde ich gehen. Zu Mittag, nach der Suppe, ungefähr zwei Stunden. Insgesamt also vier Stunden Marsch. Die übrige Zeit sitzen oder liegen.
Ohne ermüdet zu sein, werde ich kaum mehr davonschweben können. Ich werde es trotzdem
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