Papillon
versuchen.
Heute beginne ich, nachdem ich lange an meine Freunde und an den Unglücklichen dachte, dem es so übel ergangen war, mich in die neue Tagesordnung zu üben. Es gelingt mir recht gut, obwohl mir die Stunden jetzt länger vorkommen und es in meinen Beinen, die stundenlang untätig sind, zu kribbeln beginnt.
Die neue Lebensweise dauert nun schon zehn Tage. Ich habe ständig Hunger. Ich fühle schon eine Art konstanter Mattigkeit, die immer mehr von mir Besitz ergreift. Die Kokosnuß fehlt mir entsetzlich, und auch die Zigaretten gehen mir ab. Ich lege mich sehr früh nieder und entfliehe aus der Zelle. Gestern war ich in Paris, in der »Toten Ratte«, wo ich oft mit meinen Freunden Champagner getrunken habe. Antonio war aus London da. Er stammt von den Balearen, spricht aber Französisch wie ein Pariser und Englisch wie ein waschechter Roastbeef. Am nächsten Tag war ich bei Marronier, am Boulevard de Clichy, er hat einen seiner Freunde mit fünf Revolverschüssen getötet. Freundschaft und tödlicher Haß wechseln rasch in diesem Milieu. Ja, gestern war ich in Paris und tanzte im »Petit Jardin« in der Avenue des Saint-Ouen. Die Kundschaft bestand hauptsächlich aus Korsen und Marseillern, sie hatten einen guten Akkordeonspieler dort. Ich sehe während dieser imaginären Reise alle meine Freunde so lebhaft vor mir, daß ich gar nicht auf den Gedanken komme, nicht wirklich unter ihnen zu sein. Auch die Orte, an denen ich meine schönen Nächte verbringe, sind alle wirklich.
Ich komme also durch meine Strafdiät zu dem gleichen Resultat wie vorher durch die Ermüdung beim Gehen. Die Bilder der Vergangenheit tragen mich mit solcher Macht aus der Zelle, daß ich tatsächlich länger in Freiheit lebe als im Zuchthaus.
Ich muß noch etwas über einen Monat durchhalten. Es ist jetzt drei Monate her, daß ich nicht mehr zu mir nehme als ein Stück Brot und mittags die warme Wassersuppe mit dem gekochten Fleischstück darin. Von dauerndem Hunger geplagt, sehe ich mir das Fleischstück genau an, ob es nicht wieder einmal, wie so oft, nur aus Haut besteht. Ich bin viel magerer geworden und bin mir klar darüber, wieviel die Kokosnuß, die ich glücklicherweise zwanzig Monate lang bekommen habe, zur Erhaltung meiner Gesundheit und meines geistigen Gleichgewichts beigetragen hat, während dieser furchtbaren Ausschließung aus dem Leben.
Heute morgen bin ich, nachdem ich meinen Kaffe getrunken habe, sehr nervös. Ich habe mich so weit gehen lassen, die Hälfte meines Brotes zu essen, was ich sonst nie mache. Gewöhnlich schneide ich es in vier ungefähr gleiche Teile, die ich um sechs Uhr früh, zu Mittag, um sechs Uhr abends und dann in der Nacht aufesse. Warum hast du das jetzt getan? schelte ich mich. Mußt du gegen Ende der Zeit deinen Schwächen so nachgeben? – Ich habe Hunger und fühle mich kraftlos, antworte ich mir. – Sei nicht so anspruchs- voll.
Woher willst du denn die Kraft nehmen, wenn du das Zeug auf einmal in dich hineinfrißt? Aber ich weiß schon: lieber ein bißchen schwach sein, nur nicht krank! Die »Menschenfresserin« hat – mit etwas Glück, woran es nicht fehlen wird – die Partie gegen dich verloren, Papillon …
Nach meinem Zweistundenmarsch sitze ich auf dem Betonblock, der mir als Hocker dient. Noch dreißig Tage. Siebenhundertundzwanzig Stunden. Dann wird sich die Tür auftun, und man wird zu dir sagen: Zuchthaussträfling Charrière, kommen Sie heraus, Sie haben Ihre zwei Jahre Zuchthaus beendet. – Soll ich darauf etwas antworten? Etwa: Ja, ich habe meine zwei Jahre Kalvarienberg hinter mich gebracht? – Aber nein, bedenke doch, wenn es der Kommandant ist, dem du die Sache mit dem Gedächtnisschwund aufgebunden hast. Du mußt das doch kalt weiterspielen und sagen: Was, ich bin begnadigt und kann nach Frankreich zurück? Mein Lebenslänglich ist zu Ende?… Ach, nichts. Nur ruhig ihm ins Gesicht sehen, damit er merkt, daß das Fasten, zu dem er dich verurteilt hat, eine Ungerechtigkeit war. – Was ist nur los mit dir?
Ungerechtigkeit oder nicht, was macht das ihm aus? Was bedeutet das schon für so einen? Du wirst dir doch nicht weismachen wollen, daß er Gewissensbisse hat, weil er dir eine ungerechte Strafe auferlegt hat?
Ich verbiete dir, zu glauben, morgen oder wann immer, daß ein Gefängniswärter ein normales Lebewesen ist. Ein Mann, der unter diese Bezeichnung fällt, kann unmöglich einer solchen Korporation angehören. Man gewöhnt sich an alles im Leben,
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