Papillon
sogar daran, seine ganze Karriere hindurch ein Schwein zu sein. Nur knapp vor seinem Tod wird ihn, sofern er etwas von Religion ahnen sollte, vielleicht die Angst vor Gott einschüchtern und ein wenig reuig stimmen. Aber auch nicht aus Gewissensbissen über die Schweinereien, die er begangen hat, sondern aus purer Angst davor, vom lieben Gott zu ewiger Höllenpein verdonnert zu werden.
Wenn du also wieder auf die Insel kommst, egal auf welche, wirst du auf keinen Fall jemals ein Kompromiß mit einem von dieser Rasse schließen. Jeder bleibe auf seiner Seite. Dort die Feigheit, die pedante seelenlose Autorität, der intuitive Sadismus mit seinen automatischen Reaktionen – und hier ich. Ich und die Männer meiner Kategorie, die sich zwar auch schwere Verfehlungen zuschulden kommen ließen, sich aber durch ihre Leiden unvergleichliche Qualitäten erworben haben: Mitgefühl, Güte, Opferbereitschaft, Seelengröße, Mut.
Ganz offen: ich bin lieber Sträfling als Gefängnisaufseher.
Nur noch zwanzig Tage. Ich fühle mich sehr schwach. Dabei fällt mir auf, daß mein Stück Brot jetzt immer besonders klein ist. Wer kann sich so weit erniedrigen, daß er es auf mein Brot abgesehen hat? Meine Suppe besteht seit einigen Tagen nur noch aus Wasser, und das Fleischstück darin ist ein Knochen mit sehr wenig Fleisch oder Haut daran. Ich habe Angst, krank zu werden. Es ist eine Plage. Ich bin so schwach, daß ich in wachem Zustand, ohne jede Bemühung, zu träumen anfange. Diese von tiefen Depressionen begleitete Mattigkeit beunruhigt mich. Ich versuche dagegen anzukämpfen, und es gelingt mir unter großer Anstrengung, die vierundzwanzig Stunden täglich durchzustehen.
Es kratzt an meiner Tür. Rasch greife ich nach dem Briefchen. Es ist mit Leuchttinte geschrieben. Von Dega und Galgani. Ich lese: »Laß uns ein Wort zukommen! Sind sehr besorgt um Deinen Zustand. Noch neunzehn Tage. Mut! Louis – Ignace.«
In dem Briefchen steckt ein Zettel und ein Stück Bleistiftmine. Ich schreibe: »Ich halte durch. Bin sehr schwach. Danke. Papi.«
Der Gangfeger kratzt wieder, und ich schiebe den Zettel hinaus. Dieser Brief, ohne Zigaretten und ohne Kokosnuß, bedeutet mir mehr als alles. Dieser bewundernswerte Freundschaftsbeweis versetzt mir genau den Peitschenhieb, den ich nötig hatte. Man weiß draußen, wo ich bin, und wenn ich krank werde, werden meine Freunde bestimmt den Arzt aufsuchen und ihn so weit bringen, mich ordentlich zu behandeln. Sie haben recht: nur noch neunzehn Tage. Ich nähere mich dem Ende dieses erschöpfenden Wettlaufs gegen den Tod und den Wahnsinn. Ich werde nicht krank werden. Ich werde mich so wenig wie möglich bewegen, um nur die allernötigsten Kalorien zu verbrauchen. Ich werde die zwei Stunden Marsch am Morgen und die zwei Stunden am Nachmittag auch noch weglassen. Es ist das einzige Mittel, durchzuhalten. Ich bleibe also zwölf Nachtstunden liegen, und während der übrigen zwölf rühre ich mich nicht von meinem Steinhocker weg. Von Zeit zu Zeit stehe ich auf, mache ein paar Kniebeugen und Armbewegungen, und dann setze ich mich wieder hin. Nur noch zehn Tage.
Ich spaziere gerade durch Trinidad, umgaukelt von den klaren Melodien der javanischen Geigen mit nur einer Saite, als mich ein grauenhaftes, unmenschliches Gebrüll in die Wirklichkeit zurückreißt. Es kommt anscheinend aus der Zelle hinter mir. Jedenfalls aus nächster Nähe.
»Du Schwein, komm in mein Loch herunter! Wirst du nicht müde, mich von da oben zu bewachen? Merkst du denn nicht, daß dir die Hälfte der Vorstellung verlorengeht, weil zuwenig Licht in dem Loch ist?«
»Still, sonst werden Sie schwer bestraft«, sagt der Posten.
»Ja, ja, daß ich nicht lache, du Dummkopf! Gibt es noch eine ärgere Strafe als die Stille hier? Straf mich, soviel du willst, prügle mich, wenn du Lust hast, du Scheusal von einem Henker, so etwas Fürchterliches kannst du gar nicht erfinden wie diese Stille hier. Nein, nein, nein! Ich will nicht mehr, ich will nicht mehr hier bleiben und nicht reden dürfen! Seit drei Jahren schon will ich dir das einmal sagen: Scheißkerl, dreckiger Idiot! Ich bin vertrottelt genug gewesen, sechsunddreißig Monate zu warten, anstatt dir meinen Ekel gleich am Anfang ins Gesicht zu schreien. Und warum habe ich gewartet? Aus Angst, bestraft zu werden! Aber jetzt weißt du’s, daß mich vor dir ekelt, vor dir und allen deinen verdammten Gefängnisaufsehern!«
Wenige Augenblicke später wird eine Tür aufgesperrt,
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