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Papillon

Papillon

Titel: Papillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Charrière
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und ich höre: »Nein, nicht so! Kehren Sie sich um, das ist viel wirkungs voller!«
    »Zieh sie mir an, wie du willst, deine verdammte Zwangsjacke!« brüllt der arme Kerl. »Auch verkehrt, wenn du magst! Zieh sie so fest zusammen, daß ich ersticke! Zieh nur an, mit den Knien, das wird mich auch nicht hindern, dir zu sagen, daß deine Mutter eine Sau war und daß du deswegen ein solcher Dreckhaufen bist!«
    Man muß ihm einen Knebel in den Mund gesteckt haben, denn ich höre nichts mehr. Die Tür hat sich wieder geschlossen. Die Szene muß den jungen Aufseher sehr aufgeregt haben, denn ein paar Minuten darauf bleibt er vor meiner Zelle stehen und sagt: »Er muß verrückt geworden sein!«
    »Meinen Sie? Aber was er da sagte, klang gar nicht so verrückt.«
    Er ist wie aus den Wolken gefallen, der Posten, und schon im Gehen wirft er mir noch zu: »Na, Sie, Sie machen ihm das am Ende noch nach, was?«
    Der Zwischenfall hat mich aus meinem Traum von der Insel mit den mutigen Menschen, den Geigen, den Brüsten der Inderinnen und dem Hafen von Port of Spain mit einem Schlag in die traurige Wirklichkeit zurückversetzt.
    Noch zehn Tage. Zweihundertvierzig Stunden.
    Die Taktik, sich nicht zu bewegen, trägt Früchte. Zumindest insofern, als die Tage infolge des Briefchens meiner Freunde sanft dahinfließen. Der Gedanke, in Zweihundertvierzig Stunden das Zucht haus hinter mir zu haben, gibt mir ein Gefühl von Stärke. Ich bin geschwächt, aber mein Gehirn ist intakt, meine Energie verlangt nur nach etwas mehr physischer Kraft – während sich dort, hinter mir, nur durch eine Mauer von mir getrennt, ein Mensch im ersten Stadium des Irreseins windet oder, was vielleicht noch schlimmer ist, am Rande der Tobsucht. Er wird nicht mehr lange zu leben haben, seine Auflehnung gibt denen die Gelegenheit, ihn bis zur Sättigung mit »harter Behandlung« zu füttern, auf die jeder Gammler exakt gedrillt wird, damit die armen Teufel ja möglichst wissenschaftlich getötet werden … Ich mache mir Vorwürfe, weil ich mich dadurch, daß der andere hinter der Mauer erledigt ist, auf einmal merkwürdig stärker fühle, und ich frage mich, ob vielleicht auch ich zu jenen Egoisten gehöre, die im Winter im warmen Überrock, bewaffnet mit festen Schuhen und Handschuhen, die Massen schlecht gekleideter, vor Kälte erstarrter Arbeiter mit blauen Händen frühmorgens der ersten Metro oder dem Autobus nachlaufen sehen und bei ihrem Anblick die Wärme des eigenen Pelzrockes noch mehr genießen …
    Bald ist alles zu Ende, und ich hoffe in knapp sechs Monaten in jeder Beziehung – physisch, geistig und auch was meine Energie betrifft – so gesund zu sein, daß ich zu einer aufsehenerregenden Flucht in der Lage bin.
    Über die erste ist viel geredet worden, die zweite wird in eine der Steinmauern des Bagnos eingraviert werden, das steht außer Zweifel. Noch ehe sechs Monate um sind, werde ich draußen sein!
    Die letzte Nacht im Zuchthaus. Seit meinem Eintritt in die Zelle Nummer 234 sind siebzehntausendfünfhundertundacht Stunden vergangen. Während dieser Zeit ist meine Tür ein einziges Mal geöffnet worden, damit ich von dem Kommandanten meine Strafe entgegennehme. Abgesehen von meinem Nachbarn, mit dem ich täglich ein paar Silben ausgetauscht habe, hat man viermal das Wort an mich gerichtet. Einmal um mir zu sagen, daß man beim Pfiff die Pritsche herunterlassen soll, das war am ersten Tag. Dann kam der Arzt: »Drehen Sie sich um, husten Sie!« Eine etwas längere aufregende Unterhaltung hatte ich mit dem Kommandanten. Und neulich waren es die paar Worte mit dem Posten über den armen Irren. Als Ablenkung war das alles in allem nicht gerade übertrieben.
    Ich schlafe ruhig ein, ohne an etwas anderes zu denken als: Morgen wird sich die Tür hier endgültig öffnen.
    Morgen werde ich die Sonne wiedersehen, man wird mich auf die Insel Royale schicken, und ich werde Meeresluft atmen. Morgen werde ich frei sein. Ich muß lachen. Frei? Morgen wirst du offiziell deine Strafe als lebenslänglicher Zwangsarbeiter antreten. Und das nennst du frei? Ich weiß, aber dieses Leben wird mit dem, was ich bisher ertragen mußte, nicht zu vergleichen sein. In welchem Zustand werde ich Clousiot und Maturette vorfinden? Um sechs Uhr gibt man mir den Kaffee und das Brot. Ich hätte gute Lust, zu sagen: Aber ich gehe heute, Sie täuschen sich! Rasch erinnere ich mich an meinen Gedächtnisschwund, und wer weiß, ob der Kommandant, wenn ich ihm wieder unter die

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