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Papillon

Papillon

Titel: Papillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Charrière
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mich buchstäblich in die Höhe gestoßen, doch ohne mich vom Floß zu trennen, und ist weiter vorn ausgelaufen, wo ihr Schaum sich über dem Modder ausbreitet. Sie ist auch über Sylvain hinweggegangen, der noch immer die Brust aus dem Wasser hat. Blitzschnell denke ich: Je mehr Flutwellen heranrollen, desto mehr wird der Morast aufgeweicht. Ich muß zu ihm hin, koste es, was es wolle.
    Mit
der
Energie eines Tieres, das seine Brut bedroht sieht, wie eine Mutter, die ihr Kleines aus einer furchtbaren Gefahr erretten will, schiebe ich mich auf dem tückischen Gelände vorwärts, schiebe, schiebe, um zu Sylvain zu gelangen. Er blickt ohne ein Wort zu mir her, ohne eine Geste, und seine weit geöffneten Augen heften sich an die meinen – wir verschlingen einander mit unseren Blicken. Meine Augen sind so auf ihn fixiert, um nur ja seinen Blick nicht zu verlieren, daß ich überhaupt nicht mehr merke, wie meine Hände arbeiten. Aber da zwei weitere Flutwellen über mich hinweggegangen sind und mich vollkommen überrollt haben, ist auch der Morast unter mir weniger fest, und ich kann weit weniger schnell vorwärts kommen als eine Stunde zuvor. Gerade ist eine große Flutwelle vorübergegangen, die mich beinahe erstickt und vom Floß gerissen hat. Ich setze mich auf, um besser sehen zu können. Sylvain steckt jetzt bis zu den Schultern im Morast. Ich bin noch ungefähr vierzig Meter von ihm entfernt. Er blickt mich gespannt an. Ich sehe ihm an, daß er weiß, er wird sterben müssen, hier, versunken dreihundert Meter vor dem Gelobten Land, wie eine armselige Kreatur.
    Ich lege mich wieder hin und versuche, mich vom Morast, der jetzt fast flüssig ist, frei zu machen. Meine und seine Augen versenken sich ineinander. Er macht mir ein Zeichen, als wollte er mir sagen: Streng dich nicht mehr an, Papi, es ist aus, und die Schuld trifft ganz allein mich … Trotzdem mache ich weiter, und ich bin kaum mehr dreißig Meter von ihm entfernt, als eine große Welle anrollt, mich mit ihrer Wassermasse ganz zudeckt und fast von den Säcken schleudert. Sie reißt mich fünf oder sechs Meter weit mit.
    Als die Welle vorbei ist, blicke ich hin – Sylvain ist verschwunden. Der mit einer leichten Schaumschicht bedeckte Morast ist völlig glatt, nicht einmal die Hand meines armen Freundes ragt heraus, um mir ein letztes Lebewohl zuzuwinken. Meine Reaktion ist schrecklich unmenschlich, widerlich, der Selbsterhaltungstrieb erschlägt jede andere Empfindung: Du lebst! Aber du bist allein. Und wenn du in der Wildnis sein wirst, ohne Freund, dann wird das kein Spaß sein, die Flucht zu einem guten Ende zu bringen.
    Eine Brandungswelle, die sich an meinem Rücken bricht, ruft mich wieder zur Ordnung. Sie hat mich niedergedrückt, und der Anprall war so stark, daß ich für einige Minuten den Atem verloren habe. Das Floß ist noch einige Meter vorwärts geglitten, und dann erst, während ich sehe, wie die Welle zwischen den Bäumen ausläuft, beweine ich Sylvain: Wir waren so nahe! Wenn du dich nur nicht bewegt hättest!
    Dreihundert Meter vom Busch entfernt! Warum? So sag mir doch, warum hast du diese Dummheit begangen? Wie konntest du annehmen, daß diese dünne Schicht Dreck stark genug wäre, um auf ihr zu Fuß die Küste zu erreichen? Hat dich die Sonne verwirrt? Die Wasserreflexe? Was weiß denn ich! Du konntest dieser Hölle nicht mehr standhalten? Sag mir, wieso konnte ein Mann wie du es nicht mehr ertragen, noch ein paar lumpige Stunden mehr in dieser Glut hitze auszuharren?
    Ununterbrochen folgt Rolle auf Rolle mit Donnergetöse. Sie wälzen sich immer enger hintereinander heran und werden immer größer. Jedesmal werde ich vollkommen zugedeckt, und jedesmal gleite ich um einige Meter weiter, immer im Kontakt mit dem Moder. Gegen fünf Uhr verwandeln sich die Walzen plötzlich in Wellen, sie heben mich auf, und ich schwimme. Die Wellen machen, weil sie flachen Grund unter sich haben, fast keinen Lärm mehr. Das Donnern hört auf. Das Floß von Sylvain ist schon in den Busch getrieben worden.
    Ich werde, nicht einmal unsanft, etwa zwanzig Meter vom Rand des Urwaldes abgesetzt. Aber als die Welle sich zurückzieht, liege ich von neuem auf dem Morast, und ich bin fest entschlossen, mich nicht von meinem Floß wegzurühren, bevor ich nicht eine Liane oder einen Ast zwischen den Fingern habe. Ich habe mehr als eine Stunde warten müssen, ehe ich wieder vom Boden abgehoben und in den Busch hineingetragen werde. Die Welle, die mich plötzlich

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