Papillon
die mir die entzündeten Augen reinigen, sehe ich Tausende kleiner Kristalle in allen Farben, und ein blödsinniger Gedanke fährt mir durchs Hirn: Du siehst die Glasfenster einer Kirche. Gott ist heute mit dir, Papi! Inmitten der ungeheuerlichen Naturgewalten, angesichts des Windes, des unendlichen Meeres, der Tiefe der Wellen, des gewaltigen grünen Daches der Buschwildnis, fühlt man sich so unendlich klein im Vergleich zu allem, was einen umgibt, und selbst ohne ihn zu suchen, begegnet man Gott – berührt ihn mit dem Finger. Und sosehr ich ihn auch in den einsamen Nächten während der Tausenden Stunden, die ich in den finsteren Verliesen, lebend begraben ohne einen Sonnenstrahl, gelästert habe, sosehr komme ich ihm heute nahe. Während die Sonne sich hebt, die alles verschlingt, was ihr nicht zu widerstehen vermag, berühre ich tatsächlich Gott, fühle ihn in mir. Er flüstert mir sogar ins Ohr: »Du leidest und wirst noch mehr leiden, aber dieses Mal habe ich ! beschlossen, mit dir zu sein. Du wirst frei und Sieger sein, ich verspreche es dir.« Niemals bin ich in der Religion unterwiesen worden, kenne nicht einmal das Abc des Christentums, bin unwissend Ibis zu dem Grade, daß ich den Vater von Jesus nicht kenne und nicht weiß, ob er ein Tischler oder ein Kameltreiber war und ob seine Mutter wirklich die heilige Jungfrau Maria ist. Und doch verhindert diese krasse Unwissenheit nicht, daß man Gott begegnet, wenn man ihn sucht. Und man kommt dahin, ihn im Wind, im Meer, in der Sonne, in der Wildnis, in den Sternen zu erkennen, ja auch in den Fischen, die er geschaffen haben muß, damit der Mensch sich von ihnen ernähre.
Die Sonne ist schnell hochgestiegen, es muß zehn Uhr vormittags sein. Ich bin vom Kopf bis zu den Hüften vollkommen trocken. Das nasse Tuch habe ich mir jetzt wie einen Burnus um Kopf und Schultern drapiert.
Eben mußte ich mir die Wolljoppe über die Schultern legen, denn mein Rücken und meine Arme brennen wie Feuer. Selbst die Beine, die immerhin häufig im Wasser hängen, sind rot wie gesottene Krebse.
Je näher wir der Küste kommen, desto stärker wird das Meer von ihr angezogen, und die Wellen wandern gleichmäßig wie ein Perpentikel auf sie zu. Ich sehe jetzt die Einzelheiten der Buschwildnis, und das läßt mich vermuten, daß wir allein an diesem Morgen, innerhalb von vier oder fünf Stunden, dem Land unglaublich viel näher gekommen sind. Dank der bei meiner ersten Flucht gesammelten Erfahrung kann ich Entfernungen abschätzen. Wenn man die Dinge bereits gut zu unterscheiden vermag, ist man an die fünf Kilometer weit, und ich sehe tatsächlich den Größenunterschied zwischen den einzelnen Baumstämmen, ja vom Kamm einer höheren Welle aus sogar sehr klar ein Baumungetüm, das halb im Meer liegt und sein Blätterwerk badet.
Da – Delphine und Vögel! Die Delphine werden sich doch nicht damit unterhalten, mein Floß vorwärts zu stoßen? Ich habe nämlich erzählen hören, daß sie die Gewohnheit haben, Strandgut oder Men- sehen vor sich her gegen die Küste zu stoßen und sie dabei, übrigens in der besten Absicht, ihnen zu helfen, mit den Schnauzen unters Wasser zu drücken, so daß man ersaufen kann. Nein, sie drehen und wenden, es sind drei oder vier,
die
nur wittern und sehen wollen, was das wohl wäre, und verschwinden gottlob wieder, ohne mein Floß berührt zu haben.
Es ist Mittag. Die Sonne steht senkrecht über meinem Kopf. Sie hat offenbar die Absicht, mein Hirn zu Bouillon zu verkochen, dieses Luder. Meine Augen tränen ununterbrochen, und meine Lippen und meine Nase haben keine Haut mehr. Die Wellen sind kürzer und heftiger geworden, stürzen mit ohrenbetäubendem Lärm auf die Küste zu.
Ich sehe Sylvain fast ständig. Kaum daß er je verschwindet, die Wellen sind nicht hoch genug. Von Zeit zu Zeit dreht er sich um und hebt den Arm. Er hat den Oberkörper immer noch nackt und nur das Tuch auf dem Kopf.
Jetzt geht das Meer nicht mehr in Wellen auf die Küste zu, sondern in kurzen, rollenden Stößen. Es ist da eine Art Barre, an der sich die anrollende Wassermasse mit fürchterlichem Getöse bricht, um sie dann schäumend zu überspringen und in die Uferwildnis einzudringen.
Wir sind weniger als einen Kilometer von der Küste entfernt, und ich kann weiße und rosa Vögel mit ihren aristokratischen Federbüschen ausnehmen. Sie gehen im Sumpf spazieren und picken dort herum. Es sind Tausende. Kaum einer fliegt höher als zwei Meter. Sie fliegen nur
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