Para-Traeume
sich ab wie ein Scherenschnitt.
Und doch erschien Moses Pray etwas daran . falsch.
Etwas fehlte.
Aber was?
Er ging der Frage nicht länger als eine Sekunde nach, weil er seine Konzentration ganz darauf verwenden mußte, seinen Herzschlag in halbwegs normalen Rhythmus zurückzuzwingen.
Der Fremde trat einen Schritt vor, und Pray fühlte ein leichtes Vibrieren des Bodens. Jetzt, da der andere in das im Raum herrschende Dämmerlicht eintauchte, konnte er ihn auch endlich deutlicher erkennen. Und für einen sehr langen Augenblick war Moses Pray fast zu hundert Prozent davon überzeugt, einem lebenden Toten gegenüberzustehen.
Einem Toten jedoch, der die Jahre im Grab nahezu unversehrt überstanden hatte.
Denn der hünenhafte Mann, dem er sich gegenübersah, erinnerte ihn auf unheimliche Weise an John Wayne, den legendären Helden zahlloser Western. Sogar das Outfit stimmte: Jeans, Leinenhemd, Lederweste, Stetson, alles staubig wie nach einem langen Ritt, und um die Hüfte trug der Mann einen patronenbestückten Revolvergurt, in dessen Holster ein Colt steckte. Erst auf den zweiten Blick entdeckte Pray dann den metallenen Stern an der Weste seines Gegenübers, dessen Gravur vor Schmutz allerdings nicht erkennbar war.
Endlich fand Moses Pray seine Stimme wieder, wenn er auch nichts von Sinn hervorbrachte.
»Wer ... was ...«, stammelte er, und sein Blick glitt ohne Unterlaß zwischen dem Fremden und den umherliegenden Kleiderbündeln hin und her.
Der Mann mit dem Stetson sah sich ebenfalls um, allerdings weder verwundert noch entsetzt, sondern nur - bedauernd?
Dann wandte er sich ab und trat hinaus auf die im Schatten eines Vordachs liegende Veranda.
Moses Pray folgte ihm. Nach einer Weile. Als er sich soweit beruhigt hatte, daß seine Beine ihn wieder anstandslos und ohne zu zittern trugen. Er trat neben den Mann in der Westernkluft und suchte nebenher mit Blicken nach dem Fahrzeug, mit dem der andere gekommen sein mußte. Er hätte sich auch nicht gewundert, wenn er ein angeleintes Pferd entdeckt hätte. Nicht sehr zumindest .
Aber er sah weder das eine noch das andere.
»Sind Sie ... sind Sie der Sheriff dieses Countys?« fragte Pray dann endlich.
»Deadhorse ist meine Stadt«, erwiderte der Duke-Verschnitt mit knarzender Stimme, während er seinen Blick über die umliegenden Gebäude wandern ließ.
»Dann sind Sie der Sheriff von Deadhorse?« hakte Pray ungläubig nach. »Sie ... leben hier?«
Moses Pray hatte kaum einen Zweifel, daß er es mit einem zumindest latent Verrückten zu tun hatte. Jemand, der diese Stadt als die seine bezeichnete, konnte nicht richtig ticken. Und schon gar nicht, wenn er es in solch einem Aufzug tat!
Wo war er da nur hineingeraten?
»Was . was war das für ein Wesen da drin? Gab es noch mehr von der Art?« fragte er weiter, das Beben in seiner Stimme mühsam unterdrückend.
»Es wird einsam werden ohne sie«, sagte der andere rauh.
»Einsam? Ohne sie? Wer sind . oder wer waren sie?«
Endlich wandte sich der Hüne um. Sein Blick begegnete dem Prays, und fast übergangslos hatte der Bibelverkäufer den Eindruck, die Temperatur würde um ein paar Grad fallen, ohne daß sich jedoch ein Lüftchen regte oder eine Wolke die Sonne verdunkelte.
Es geschah einfach, als der andere ihn ansah.
»Wer sie waren?« echote er. »Sie waren - meine Kinder.«
»Ihre Kinder?« kam es lahm über Moses Prays Lippen. Seine Zunge schien ihm kaum noch gehorchen zu wollen. Wie auch der Rest seines Körpers. Er stellte es fest, als er einen Schritt zurücktreten wollte und es nicht konnte.
»Etwas hat sie mir genommen. Ein schrecklicher Fluch .«
Wieder ließ der andere den Blick schweifen, und Pray folgte ihm, wenn auch nur aus den Augenwinkeln, weil er seinen Kopf nicht mehr willentlich drehen konnte. Und er sah überall entlang der Main Street und auf den hölzernen Sidewalks weitere Kleiderbündel liegen, von denen ein kaum spürbarer Luftzug flockigen Staub wehte und ins Nichts trug.
»Es wird einsam werden in Deadhorse. Ich muß mich wohl nach neuer Gesellschaft umtun«, meinte der Hüne.
Er grinste breit - und Moses Pray wäre wohl in die Knie gebrochen, wenn er nur noch ein bißchen Herr seines Körpers gewesen wäre.
Denn der Anblick der beiden spitzen Augzähne, die sich unter der Oberlippe seines Gegenübers hervorschoben, riß alle Schleier, unter denen vorhandenes Wissen in Moses Pray bisher verhüllt gelegen hatte, entzwei. Und eine wahre Flut von Bildern und Eindrücken
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