Paradies. Doch kein Himmel (German Edition)
uns?“fragte der Leibwächter.
Frau Lopez hob einen braunen Umschlag, den sie unter ihrem Jackett getragen hatte.
„Hier“, sagte sie und lächelte undefiniert ins schummrige Gegenlicht.
Marcial winkte mit der Hand und der Leibwächter nahm ihr den Umschlag ohne grosses Federlesen aus der Hand und reichte ihn dem Mann am verhangenen Fenster.
Marcial öffnete den Umschlag und fand darin ein Plastikmäppchen mit einem dünnen Stapel von Blättern. Er fächerte das Papier mit dem Finger auf und sagte: „Es sind Kopien. Wo sind die Originale?“
„Die Originale müssen bei den Behörden bleiben, ich kann Ihnen nur die Kopien zur Verfügung stellen“, erwiderte Frau Lopez schnellatmig.
„Das sehe ich nicht so“, erklärte Marcial, „bringen Sie mir die Originale.“
„Aber ich habe Ihnen doch extra die Dokumente aus dem Computer von diesem Thal ausgedruckt. Die sind auch dabei“, erklärte sie. Sie hatte sogar das Kabel auftreiben müssen, um die Maschine anzuschalten und hatte sich nur schwer in dem fremdsprachigen Dateienwald zurecht gefunden. Sie war beleidigt, denn derart engagierte sie sich selten.
„Bringen Sie uns den Computer“, sagte der Leibwächter mit einem Blick zum Mann am Fenster.
Frau Lopez sah eindringlich ins Halbdunkel und versuchte ein Gesicht auszumachen. Als sie einen weiteren Leibwächter nähertreten sah, erahnte sie, dass die Situation ernst war. Sie schnappte nach Luft und sagte schnell: „Ich werde Ihnen alles zur Verfügung stellen, aber sehen Sie, ich bringe meine Anstellung in Gefahr, wenn die Unterlagen den Behörden nicht mehr vorliegen!“
„Was wissen Sie von Gefahr?“ fragte der zweite Leibwächter nähertretend. „Bringen Sie uns die Originale und den Computer.“
Frau Lopez nickte und verliess rückwärts den Raum, während der erste Leibwächter ihr die Tür öffnete.
Frau Lopez hielt Wort. Sie ging nicht, wie zunächst beabsichtigt, nach Hause, wo ihr arbeitsloser Freund die Tage im Unterhemd vor dem Fernseher verbrachte. Ihren abenteuerlichen Ausflug ins Hotel hatte sie sich zum Anlass erkoren, ihren Arbeitstag elegant abzukürzen. Nun aber schien ihr das nicht mehr empfehlenswert. So eilte sie in ihr Büro und sammelte dort die Akte über Vincent Thal sowie seinen modernen dünnen Rechner ein. Sie schüttelte leicht den Kopf, als sie an diesen sturen Jungen dachte. Er hätte sich so viele Schwierigkeiten erspart, hätte er etwas Vernunft gezeigt.
Frau Lopez dachte noch an die Unterredung mit ihm, als sie mit schweissigen Händen die Akte in einen neutralen Umschlag steckte und zusammen mit dem Rechner unter ihrer Jacke verbarg. Sie war nervös und ihre Bluse klebte ihr auf der Haut, als sie das Verwaltungsgebäude zum zweiten Male an diesem Tag verliess. Auf halbem Weg zum Hotel mit dem unbekannten Mann im Dunkel fiel ihr ein, dass sie die Akte hätte wenigstens fotokopieren sollen. Sie erwog, umzukehren, unterliess es aber, einer seltsamen Anspannung folgend, die sie vorwärts trieb.
Wieder eilte sie mit gesenktem Blick durch die Lobby, wieder stieg sie in den Aufzug, wo charakterlose Musik in C-Dur dümpelte und stand wieder vor der Türe. Eine gute Stunde war seit ihrem letzten Klopfen vergangen.
Sie hob die Hand, klopfte leise. Die Türe öffnete sich nach wenigen Sekunden. Der Leibwächter nahm ihr das Paket ab und reichte ihn der Silhouette am verhangenen Fenster. Frau Lopez hörte das Rascheln von Papier, während der Mann dort offensichtlich die Akte überflog und der Leibwächter den Computer startete.
„Sie können gehen“, sagte er, anscheinend, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
„Könnte ich für unsere Akten wenigstens die Kopien von vorhin haben?“ fragte Frau Lopez arglos, aber sie wurde nicht einmal mit einer Antwort bedacht.
Nach ein paar Sekunden nickte sie und verliess wieder rückwärts den Raum, als der Leibwächter für sie öffnete.
Frau Lopez verliess das Hotel, trat hinaus in den hellen Sonnenschein des frühen Abends und stieg in den Bus nach Hause. Beim Park stieg sie um und nahm die Linie in den Aussenbezirk, in dem sie wohnte. An ihrer Haltestelle stieg sie Hal aus, plötzlich unendlich müde, nachdem die Anspannung der Übergabe von ihr abgefallen war. Frau Lopez schlenderte entlang einer Hausmauer. Das Licht wich aus der Stadt und die Dunkelheit breitete sich kriechend aus. Von den Mülltonnen her roch es nach Abfall und Verwesung, aber Frau Lopez war den Weg so oft gegangen, dass es ihr nicht mehr auffiel.
Weitere Kostenlose Bücher