Paradies. Doch kein Himmel (German Edition)
Gegenteil. Der Ausblick auf ein nahes Ende war verlockend. Da sah Vincent ein, dass er ja keinen Schmerz empfinden würde, wenn nur sein Bewusstsein blieb und sein Körper verendete. Dann würden die Schmerzen nicht mehr stattfinden können.
Doch jetzt waren die Schmerzen da. Sie blieben. Sie blieben der Träger seines Bewusstseins, in dessen heimlicher Tiefe er zu verbergen suchte, was auch immer er von Consuelo und ihrem Aufenthalt wusste.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Sein linkes Auge war zugeschwollen und eine Lache von Blut trocknete neben seinem Mundwinkel auf den dunklen Brettern. Es gab nichts an seinem Leib, das nicht schmerzte und die anhaltende Tortur füllte sein ganzes Denken aus. Es war alles, was blieb, als Vincent vergass, wer er war, wie man ihn nannte und wofür er da war. Wofür er denn in diese Welt gekommen war. Was ihm am Herzen lag und weshalb sein Herz überhaupt schlug. Er nahm der Einfachheit halber an, dass er lebte, um zu schmerzen. Dass er atmete, um die Qual zu kultivieren. Das schien ihm am naheliegendsten.
Als er zu einer unsauberen Schüssel gebracht wurde, um sich zu erleichtern, brannte ihn der Urin wie Feuer. Es hatte ihm über die Erniedrigung hinweggeholfen, im Blick der Taschenlampe und des unwirschen Gewaltprotzes seinen Darm zu entlasten.
Immer wieder hatten ihm Stimmen hinter dem Schild der Taschenlampe Fragen gestellt, die zu beantworten er verweigert hatte. Er hatte nicht gesprochen. Rein gar nichts. Im würgenden, marternden Schmerz, der sich seiner so vollständig bemächtigt hatte, fragte er sich hin und wieder, woher er die Kraft genommen hatte, zu schweigen. Doch sie war dagewesen. Mochte sie daher rühren, dass er bezweifelte, jemals wieder in einen besseren Zustand zu kommen. Mochte es seine Überzeugung sein, dass das letzte Wichtige in seinem Leben die Rettung Consuelos war. Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass der brennendste Durst und der Hungerkrampf ebenso wenig wie die Schläge ausreichten, ihm ein Wort abzuverlangen.
Er hatte lange nichts zu trinken bekommen, sein Speichel schien versiegt und nur das zäh vertrocknende Blut aus Mund und Kehle gab vor, seine raue Zunge noch zu benetzen. Vincent stöhnte und versuchte, sich zu wenden, als das spreissende Holz sich in die Haut seiner gebundenen Arme drückte. Seine Hände schmerzten kaum mehr, sie waren nur mehr taub, denn das Seil schnitt hart und tief in sein Fleisch.
Seit drei Tagen hatte Consuelo die Wohnung nicht mehr verlassen. Sie wartete auf Vincent und die Angst raubte ihr den Schlaf. Nichts wusste sie über seinen Verbleib und immer wieder fürchtete sie, er könnte tot sein. Doch dann hätte sie von ihm gehört, dessen wenigstens war sie sich sicher.
Die Zeichen, die sie von ihm bekam, wurden zusehends schwächer. Sie wusste nur, dass er litt und sie kannte Marcial ausreichend, um sich vorstellen zu können, unter was.
Consuelo hatte sich verändert. Sie bemerkte selbst, wie die Entfaltung sie festigte. Sie überblickte die Dinge, die ihr begegneten und wurde nicht mehr von ihnen überrollt. Es war ihr gelungen, sich mehr denn je zur Herrin über sich selbst zu machen. Sie hatte gelernt, ihren Standpunkt zu wählen. Wie ein Kompass waren Vincents Worte über das Böse und die Dämonen, von denen sie ihm erzählt hatte, in ihrem Bewusstsein verharrt. Hatte sie dem Freund zunächst nur wie eine Ertrinkende dem Strohhalm vertraut, so war daraus inzwischen eine eigene Kraft geworden. Sie hatte seinen Glauben an das Gute in ihr selbst an den Gesetzen der Geister messen können.
Ihre Erkenntnis trug sie über die Bedrängnis und allmählich fand sie eine Ordnung der Dinge, die ihr zuvor verborgen gebli eben war. Consuelo begann, das Chaos der auf sie einstürzenden Geister und Dämonen zu überblicken. Sie sah ihren Ort und sie erkannte Ursprünge und Folgen ihrer Taten. Sie erkannte, woher sie gekommen war und wohin sie ging und welche Mächte bei ihrem Eintritt in die Seele der Erde wirksam gewesen waren. Sie erkannte das Ausmass ihrer Macht und sie erkannte das Ausmass des Verrats, dem sie anheimgefallen war. Sie erkannte die Vergehen Marcials.
Consuelo war gewachsen, sie hatte die Reichweite ihrer Herzenskräfte, die Grenzen ihres Bewusstseins ausgedehnt. Consuelo war vierzehn Jahre alt geworden und sie hatte ihre Kindheit hinter sich gelassen.
Sie hatte entdeckt, dass in ihr eine Stärke lag, die sich wohl und ohne Schwierigkeit mit Marcials messen
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