Paradies. Doch kein Himmel (German Edition)
war zu schwach zum Gehen. Als er in ihre ins Nichts sich verlierenden Augen blickte, sah er darin den Blick aufs Blut und er sah darin den Tod.
Wie verabredet brachte Vincent die kleine Patientin zu Luz, nach La Chacarita, de m Zuflucht vor behördlichem Wissen. Als er das schwache Mädchen an Luz‘ Schwelle abgeliefert hatte, fühlte er sich unendlich erleichtert, doch der Blick dieses eines Lebens beraubten Mädchens ging ihm nach und im Dunkel des Schlafes schienen ihm noch immer ihre Augen zu folgen.
Manolo stand an der Kreuzung vor seinem Laden. Die Leute gingen vorbei, aber sie kamen nicht in seinen Laden. Sie achteten seiner nicht mehr. Er hatte vordem etwas gegolten, man hatte ihn geachtet, aber nun war es anders.
Manolo dachte an die vielen kleinen Dinge, die er zu erledigen hatte. Wo war nur seine Frau? Die Waren mussten mit Preisen versehen werden. Würde sie ihm denn nicht helfen? Wo war sie nur hingegangen?
Auf den Regalen lag Staub, Staub auf dem Gehsteig und selbst in der Luft flimmerte es. Woher kam nur all der Staub, hatte er denn nicht gestern gewischt? Manolo war so müde, so unendlich müde. Es war – ja, er wusste nicht mehr, wann er zum letzten Male geruht hatte. Wann hatte er denn je geschlafen gehabt?
Vincent verspürte ein Krampfen im Magen, als er Samstagmorgen zum vereinbarten Treffen mit Luz fuhr. Er hatte sie nur kurz gesehen, als er die kleine Consuelo bei ihr abgeliefert hatte. Sachlich hatte sie das Kind zu sich genommen und sich kurz von ihm verabschiedet. Wie würde die düstere Luz diesmal sein?
Er war gespannt und wusste nicht recht, was er von der Sache halten sollte. Warum hatte er das überhaupt angefangen? Wieso mit einer derart anstrengenden Frau geschlafen?
Die Antwort lag auf der Hand, aber war es das wert gewesen?
Luz stieg mit einer knappen Begrüssung in den Jeep und setzte sich auf den Beifahrersitz. Ihr Gesicht war geradezu versteinert und die Sonnenbrille liess keinen Blick auf ihre Augen zu. Vincent erwiderte den knappen Gruss mit hochgezogenen Brauen und startete den Wagen. So.
Schweigend durchquerten sie die Vororte der Stadt, wo die Strassen quadratisch angelegt waren und bunte, üppige Gärten die Häuser umgaben. Bewaffnete Sicherheitsleute patrouillierten vor den Villen und an verschiedenen Strassenecken. Von der Strasse wirbelte zudringlich der rote Staub auf und legte sich auf Haut und Kleidung.
An der Hauptkreuzung sagte Luz nur „Nach Süden.“
Vincent kannte die Statistiken. Er wusste, dass weniger als ein Zehntel der Bevölkerung mehr als zwei Drittel der Landesfläche besass, die zum Ackerbau geeignet war. Diese beschäftigte eine landlose Arbeiterschaft der sogenannten Sintierras, die über wenig Rechte und noch weniger Besitz verfügten. Nun näherte er sich der Realität, die sich hinter diesen Zahlen verbarg. Wieder erschien ihm Luz als sein Zugang und gleichzeitig schob sie ihm den Riegel.
„Wie geht es Consuelo?“ fragte er, als sie die Villen a m Rande Asuncións passierten. Hinter bewachten Mauern und hohen Zäunen lagen weitläufige Häuser in milden Pastellfarben inmitten grosser Gärten und Parks. Von den blauen Schwimmbädern her wehte frische Kühlung, die die hochsommerliche Hitze des Novembers lockerte.
„Sie erholt sich“, erwiderte Luz mit Blick auf die Strasse. „Von wem war sie denn schwanger?“
„Wenn wir das wüssten…“, erwiderte er und liess den Satz in der Schwebe.
„Es ist so widerlich!“ sagte sie und Verachtung schien sie wie eine dichte Masse zu um geben.
Vincent vermied es, das Gespräch weiterzuführen und wünschte sich umgänglicher Gesellschaft. Zum Beispiel Patricia oder selbst Curdin. Der ging zwar nicht vor die Bürotür, wenn es sich vermeiden liess, doch machte er nicht aus allem einen Anlass. Alles in allem ging ihm Luz rechtschaffen auf die Nerven.
Nach einer Stunde der Fahrt sagte sie unvermittelt, er solle die Strasse nach links nehmen. Er nickte nur und bog in die nächste Seitenstrasse . Es war eine unbefestigte Wagenspur, die durch ebene ländliche Gefilde führte. Zu beiden Seiten wuchs hoch dichtes grünes Kraut.
Im Verlauf wurde die Strasse immer holpriger, bis sie nach mehr als einer halben Stunde der Fahrt zu einer Ansammlung von Hütten gelangten, bei denen Luz mehr anordnete als vorschlug, sie sollten anhalten. Es war inzwischen gegen ein Uhr gegangen, und die Hoffnung, Landarbeiter oder Bauern anzutreffen war gross.
Luz stieg aus dem Wagen ohne
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