Paradies. Doch kein Himmel (German Edition)
schemenhaft zu erkennen war.
„Habt ihr Hunger?“, fragte Frau Thal.
„Hm, nicht so sehr, aber ich nehme gerne etwas“, erwiderte Vincent. „Consuelo, bist du hungrig?“
„Ein bisschen“, erwiderte sie leise, den Blick in die Landschaft gerichtet. Wie anders war es hier! Die Wiesen waren von kargem bräunlichem Grün, die Bäume kahl und kaum ein Lebewesen war zu sehen. Nur die dichte Reihe glänzender Autos bewies die Bewohnerschaft. Consuelo zog die Schultern hoch und die Arme dicht an ihren Leib, so als zöge sie sich vor der Kälte zurück in sich hinein.
Als sie nach einer Stunde Fahrt die Wohnung von Vincents Eltern erreichten, hatte eine trockene Hitze ihre Wange überrötet und ihre Haut war ein wenig taub. Sie stiegen in der Garage aus und erreichten über den Aufzug die Wohnung. In grosser Reinlichkeit reihten sich helle Räume in glänzendem Parkett aneinander und ein frischer Duft erfüllte die Luft. Ein leerer grosser Balkon war durch das Wohnzimmer zu sehen und die Kissen auf dem Sofa sahen aus, als sei noch niemand darauf gesessen. Eine überbordende Reinlichkeit schlug Consuelo entgegen und sie wagte kaum zu atmen.
Frau Thal geleitete sie ins Gästezimmer, das sie anderweitig für die Pflege der Wäsche nutzte, so dass auch hier eine Atmosphäre der Reinlichkeit überwog. Sie hatte dem Mädchen ein geräumiges Bett bereitet und ihr eine Auswahl an Hand- und Duschtüchern bereitgelegt. Des Weiteren zeigte sie ihr den Platz im Schrank, in dem sie ihre Kleider unterbringen sollte. Consuelo betrachtete die leeren Fächer und Bügel und überlegte, wie einsam sich ihre mageren Habseligkeiten hier ausnähmen. Seit ihrer Flucht aus der Gemeinde der Flammenden Herzen hatte sie nur ein paar neue Sachen bekommen, alles andere war noch in Concepcion.
„Dank‘ “, sagte sie leise, so wie sie es von Vincent gelernt hatte und Frau Thal lächelte befriedigt. Dann liess sie das Mädchen allein.
Consuelo packte pflichtschuldig ihre karge Habe aus und trat ans Fenster. So unerschütterlich solide wie die Mauern war die nasskalte Umgebung. Sie sah weitere Mehrfamilienhäuser wie das, in dem sie nun war und den grauverhängten Himmel. Leichter Nieselregen bildete einen Vorhang vor dem weiteren Ausblick und sie fühlte sich wie in einer Wolke, um sie her nichts als reines Grau. Ob es in diesem Land noch etwas anderes gab?
Schliesslich klopfte es und Vincent fragte, ob sie zum Essen kommen wolle. Sie lächelte und trat an den Tisch.
Die Mahlzeit war seltsam gewürzt, aber Vincent versicherte sie, es sei eine landesübliche Speise. Vincent war mit einem Male ganz anders, als sie ihn kennengelernt hatte. Es schien ihr, als erkenne sie nun Seiten an ihm, die sie bisher nie gesehen hatte. Es war ihr fast ein wenig peinlich, seine Eigenheiten gegenüber seiner Mutter zu erkennen. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, was es war, was ihn von seiner Art in Paraguay und während der Fahrt unterschied, doch es hatte etwas ungeheuer Vertrauliches für sie und sie blickte schüchtern auf ihren Teller, wo eine helle Wurst in Zwiebelsauce mit verbackenen Kartoffeln lag.
Für Vincent war mehr als ein Jahr vergangen, seitdem er das letzte Mal in Luzern gewesen war. Zu Beginn seiner Tätigkeit beim Hilfswerk hatte er sein Heim regelmässig besucht, doch inzwischen waren seit seinem vergangenen Weihnachtsbesuch sechzehn Monate vergangen.
Er sass in dem Zimmer, das er die längste Zeit seines Lebens als sein Schlafzimmer bezeichnet hatte. In dem Haus, das er früher als sein Heim bezeichnet hatte, in der Stadt, die er als seine Heimat betrachtete. Doch vor seinen Blick hatte sich wie ein Film die Sammlung seiner erworbenen Eindrücke gelegt und es war ihm fremd, was ihm ehedem vertrauter denn alles andere gewesen war.
E r bewegte sich im Schatten der Anonymität. Übermorgen würde er nach Genf fahren müssen, um vor dem Gremium des Internationalen Roten Rings, Abteilung Südamerika, Rechenschaft für seine Handlungen abzulegen. Bis dahin war Vincent frei. Zudem war er einigermassen wohlhabend: In Asunción hatte er nur einen Bruchteil seines Lohnes ausgegeben und nun lagerte sein gesammeltes Verdienst brach, doch üppig auf seinem Konto. Doch er erahnte keinen Hauch einer Zukunft, sah keinen Ausblick, kein Ziel, das zu erreichen er sich anstrengte. Er war nur frei.
Er kaufte übers Internet einen neuen Co mputer. Seine Passwörter hatte er bereits nach Möglichkeit gesperrt oder sich neue Zugangsdaten
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