Paradies. Doch kein Himmel (German Edition)
verschafft. Obgleich er den Verlust seiner Unterlagen aus Sao Paulo vermisste, so war er doch sehr erleichtert zu sehen, dass sich niemand die Arbeit gemacht hatte, sein Privatleben vollkommen zu entschlüsseln. Die Sprachbarriere, stellte er fest, hatte auch ihre Vorteile.
Zu diesem Zeitpunkt wusste keiner seiner alten Freunde, dass er im Lande war. Vincent seufzte und rief ein paar von ihnen an, die er lange nicht mehr gesehen hatte. Sie wollten gemeinsam etwas trinken gehen.
Da Consuelo mit seinen Eltern nichts zu sprechen hatte und auch kein spanisches Fernsehen zu finden war, beschloss Vincent, das Mädchen mitzunehmen. Die Tatsache, dass seine Jugendfreunde diesen Umstand seltsam finden mochten, streifte wohl seine Gedanken. Aber sollte er sie ganz alleine lassen?
Sie trafen sich zu viert in ihrem angestammten Lokal und Vincent stellte Stefan und Alexa Consuelo vor, nachdem sie sich begrüsst hatten.
„Warum bringst du ein dreizehnjähriges Mädchen ins Land?“ fragte Alexa, über den Kopf Consuelos hinweg.
„Das ist eine lange Geschichte. Eine sehr lange Geschichte. Sie ist ungefähr die einzige Person, der ich nicht widersprechen kann“, erwiderte Vincent.
„Vinc, das ist irgendwie seltsam. Das ist wie Kindesentführung!“ sagte Alexa rigoros. Sie kannte Vincent wie Stefan aus der Schulzeit und erlaubte sich als alte Freundin ein scharfes Urteil.
„Wie du meinst. Sie konnte nicht mehr bei ihrer Familie bleiben und jede Familie, die will, kann wen sie will für einen Ferienaufenthalt einladen“, erklärte er darauf ablehnend.
„Ja“, erwiderte sie gedehnt, „aber trotzdem.“
„Und wie geht es euch so? Was gibt es Neues aus dem schönen Luzern?“ ging Vincent über Alexas Einwände hinweg.
„An der Habsburgerstrasse hat eine ziemlich scharfe Bar aufgemacht“, erklärte Stefan. Sie hatten gemeinsam während ihrer Zeit an der Fachhochschule in Zürich das Nachtleben unsicher gemacht, waren in verschiedene Clubs und an Partys gegangen. Es war ganz die Gewohnheit, dass Stefan von den neuen Möglichkeiten erzählte. Er erläuterte die Einrichtung und die Gäste. „Ist ziemlich chic, richtig gut. Ich habe keine Lust mehr, Gummistiefel anzuziehen, wenn ich ausgehe. Die Zeiten der dreckigen Industrie-Clubs habe ich hinter mir. Da darf’s auch ein bisschen gediegen für mich sein“, führte er weiter aus.
Stefan war von kräftigem Wuchs und sein dickes blondes Haar trug er scheinbar nachlässig frisiert. Er wusste, dass er gut aussah und dass ihm das gedämpfte Nachtlicht besonders schmeichelte. Deshalb erprobte er seinen Charme regelmässig gegenüber Alexa, die sich aber seit Jahr und Tag immun dagegen zeigte.
„Chic ist sein neues Cool, weisst du“, erklärte Alexa und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Vincent stellte fest, dass sie das Haar jetzt sehr dunkel trug, exakt auf Kinnlänge geschnitten. Im Gegensatz zu Stefan war sie zudem schlanker geworden.
„Aha“, erwiderte Vincent und Stefan grinste breit. „Machst du mehr Sport als – hm, auch schon?“ fragte er sie.
„Es geht, ich habe ja kaum Zeit. Ich schiebe Überstunden, weisst du, das ist manchmal mörderisch“, erklärte Alexa. Sie arbeitete, wie sie erzählte, inzwischen als Event Manager und war deshalb vor allem abends oft eingespannt. Danach mochte sie selten noch ins Fitnesscenter gehen, da sei sie einfach zu faul.
„Aber bald habe ich Ferien, dann ist mal wieder Ruhe“, erklärte sie und seufzte sehnsüchtig.
„Wohin geht’s denn?“ fragte Vincent.
„Ich gehe mit einer Kollegin von der Arbeit nach Djerba. Das wird die volle Entspannung. Einfach nichts machen, mich massieren lassen, einen schönen Mann anlachen…“ führte sie aus und legte den Kopf zurück, die Augen geschlossen, als fühle sie bereits die Sonne im Gesicht.
Vincent dachte an glitzernde Pools und Trinkwasserknappheit.
„Ist das nicht die neue Single von Madonna?“ fragte Stefan unvermittelt, als ein anderes Lied spielte.
„Doch, ist aber irgendwie lahm“, erwiderte Alexa.
Consuelo blickte von einem zum anderen. Sie verstand weder Sprache noch Dialekt, aber sie hätte ohnehin nichts begriffen. Doch das Schlimme war, dass es Vincent fast gleich ging. Das Gespräch sagte ihm überhaupt nichts. Er erinnerte sich dunkel, dass derartige Blickwinkel ihm auch einmal eigen waren. Dass ihn diese Dinge einmal interessiert hatten. Dass er wie Alexa und Stefan gedacht hatte, ihre Wünsche geteilt, ihre Sicht verstanden hatte. Doch
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