Paradies für alle: Roman (German Edition)
hatte ihn für verrückt erklärt, ich war eifersüchtig gewesen, ich hatte ihn beinahe gehasst – und jetzt sehnte ich mich nach ihm. Nach einem alten Herrn, der zu mir sagte: Alles wird gut. Mach dir keine Sorgen, meine Kleine. Wir müssen nur die richtigen Fragen stellen …
In Rosekasts Garten, dachte ich, könnte ich wieder das kleine schüchterne Mädchen von damals sein. Aber Rosekast würde mich nicht zum Psychologen schleifen, wenn er meine grauen Kästchen sah. Rosekast würde mich verstehen.
Ich war bei der Tarzanschaukel, in Gedanken an Davids letzten Bericht, als mir etwas auffiel.
Der Penner. Ich hatte die Geschichte von Davids Penner gelesen und gedacht, sie wäre belanglos, aber jetzt, ganz plötzlich, im Nachhinein, sprang mir ein Detail ins Auge, oder besser: ins Gedächtnis.
Soll ich ihm meine Kleider geben?, hatte Davids Freund Finn gefragt und gelacht. Finn war ziemlich genauso groß wie David …
Ich drehte um und rannte zurück, den verwunderten Hund auf den Fersen. Eine halbe Stunde später saßen wir im Auto und verließen das Dorf. René winkte uns nach.
Finns Eltern wohnten in einem Neubaugebiet, das zu einem der anderen Dörfer gehörte, stadtnäher als unseres, praktisch für Schulkinder: eine Enklave kleiner, freundlicher Einfamilienhäuser. Ich dachte an unser Haus und fragte mich, ob es zu einem Keinfamilienhaus geworden war, aber natürlich würden David und ich auch ohne Claas eine Familie sein.
Wie würde ich ihm die Dinge erklären, wenn er aufwachte? Was konnte ich sagen?
Ich hatte immer gedacht, das schwierigste Gespräch, das wir je haben würden, wäre das über Sex, das dann nie kam, weil David mit vier Jahren lesen konnte und mir mit sechs mitteilte, danke, er wollte nichts erklärt haben, es gäbe gute Bücher, und ansonsten würde ihn das Thema nicht interessieren.
Als ich mein Auto auf dem Parkplatz des Neubaugebiets abstellte, neben den freundlichen kleinen Häusern, wünschte ich für einen Moment, ich könnte Teil dieser Siedlung sein. Die anderen Autos waren voller »Stacy fährt mit«– oder »Leo an Bord«-Schildern, die Gärten voller sorgsam gepflegter Bilderbuchblumenbeete, voller Schaukelgestelle und umnetzter Großtrampolins, die Türen voller Tonschilder und Willkommenskränze. Hier wohnten sie, die perfekten Eltern, in ihrer perfekten kleinen Welt. Und ich merkte, wie ich sie dafür hasste, dass ich nicht so sein konnte wie sie. So sehr familie. So selbstaufgebend. So teileinesübergeordnetenganzen.
Ich versuchte, zu lächeln, als Finns Mutter mir die Tür öffnete. Sie versuchte auch, zu lächeln, man sah ihr den Versuch an. Sie war hübsch, eine kleine, schlanke, dunkelgelockte Person in einer geblümten H&M-Bluse, um einiges jünger als ich. Und doch irgendwie … erwachsener, dachte ich. Sie war eine Mutter. Ich war nur eine Frau, die einen Sohn hatte.
Wir kannten uns von Fußball-Events, zu denen ich nicht gegangen war, und Kindergeburtstagen, die ich nicht ausgerichtet hatte. Ich hatte David immer nur hingebracht oder abgeholt.
»Kommen Sie … rein?«, sagte sie. »Schön, dass Sie mal … vorbeischauen? Möchten Sie einen Kaffee oder? Einen Tee?«
Jeder ihrer Sätze, auch die halben, war eine Frage.
»Ich hätte gern mit Finn gesprochen«, sagte ich, und bemühte mich, freundlich nüchtern zu klingen, nicht verzweifelt, nicht hysterisch, nicht hasserfüllt. »Über David. Ist Finn da?«
»Ja, ich … hole ihn?«, sagte sie. »Gehen Sie doch durch, ins Wohnzimmer? Da entlang?«
Sie setzte mich auf die Couch vor den Couchtisch. In unserem Haus gibt es keinen Couchtisch, und das alte Sofa lässt sich nicht mit dem vergleichen, auf dem ich an diesem Tag saß, das war ein kindergeeignetes Sofa mit waschbarem Bezug, mit vor allem gewaschenem Bezug, ein sauberes Sofa, kissenlos, schaffelllos, hygienisch. Ich sah mich um und fand mich umzingelt von gerahmten Fotos: Finn mit Eltern und älterer Schwester am Meer, Finn mit seinem Vater auf einem Ruderboot, Finn mit Schwester in einer Badewanne, als sie sehr klein gewesen waren … David und Finn bei ihrem letzten Schulausflug. Ich schluckte. Wir besaßen das gleiche Bild, irgendwo im Computer, unausgedruckt, ungerahmt. Die einzigen Fotos von uns, die bei mir herumgestanden hatten, hatte David zu Postkarten für Frau Hemke verarbeitet.
Aber das war nicht wahr, dachte ich, es gab die Bilder in Davids Zimmer, die kleinen Ölbilder, die ich für ihn gemalt hatte, nach Fotos gemalt.
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