Paradies für alle: Roman (German Edition)
Zählten sie doppelt, weil ich mir die Mühe gemacht hatte, sie zu malen? Oder zählten sie gar nicht, weil ich sie gemalt hatte und weil malen das war, was ich immer tat, was ich tat, alleine, in meinem Atelier?
Finns Mutter kam mit Finn und Finns Vater und einem Tablett zurück, das sie auf den Couchtisch stellte.
»Ich dachte, ein paar Kekse?«, sagte sie. »Sagten Sie Kaffee? Oder Tee? Finn? Davids Mutter wollte mit dir über David reden? Sie müssen die Unordnung hier entschuldigen? Die Kinder waren das Wochenende über im Sportlager?«
Ihre Fragezeichen machten mich wahnsinnig. Sie schien so unsicher zu sein, dass nichts, rein gar nichts in ihrer Umgebung als Aussage festgestellt werden konnte. Ich hatte immer gedacht, ich wäre unsicher. Aber gegen diese Frau war ich ein Bollwerk an Selbstsicherheit.
Natürlich, dachte ich. Ich besitze die Mauer.
Die Unordnung bestand aus einem Zelt, das über zwei Stühle gebreitet war, mehr Unordnung gab es nicht. Finn saß mir gegenüber auf dem Sofa und sah nervös aus. Sein Vater goss Kaffee ein und wirkte ebenfalls nervös. »Wie geht es David?«, fragte er. »Wir haben gehört, er ist im Krankenhaus.«
»Danke, es … es geht ihm nicht besonders«, sagte ich. Die beiden Erwachsenen nickten und vermieden es, mich anzusehen. Finn nickte nicht. Er starrte mich nur an und drehte ein halbfertiges Legofahrzeug zwischen seinen Fingern. Ach ja, dachte ich, andere neunjährige Jungen bauen Fahrzeuge aus Lego. Wie sehr hatte ich mir manchmal gewünscht, David würde Fahrzeuge aus Lego bauen! Und zwar nicht als Teil eines Projekts, das in der Entwicklung eines Wunderdings mit Fünfgangschaltung und Amphibienqualitäten gipfelte. Sondern einfach nur so.
Hätten wir uns besser verstanden, wenn er kein so besonderes Kind gewesen wäre? Ich war ein besonderes Kind gewesen. Auf ganz andere Art. Ich hatte es gehasst, ein besonderes Kind zu sein.
»Finn«, sagte ich und starrte zurück. »David hatte einen Unfall, das weißt du.«
»Ja«, sagte Finn und spielte weiter mit dem Legofahrzeug in seiner Hand.
»Er ist in einem dunkelgrauen Pullover und einer schwarzen Jeans gefunden worden«, fuhr ich fort. »Aber David besaß keinen grauen Pullover und keine schwarze Cordhose. Ich habe lange darüber nachgedacht, woher er die Sachen hatte.«
»Ja«, sagte Finn wieder. »Kann sein, von mir.« Er hatte aufgehört, mich anzustarren, und starrte jetzt stattdessen das Legofahrzeug an.
»Hast du sie ihm geliehen? Wann? Und warum?«
»Ich weiß nicht«, sagte Finn leise.
»Finn, du musst die Wahrheit sagen?«, flüsterte Finns Mutter. »Was ist das für eine Geschichte mit geliehenen Sachen? Du hast uns nichts davon erzählt?«
Finns Vater legte eine Hand auf ihren Arm. »Lass ihn. Er wird schon erzählen, wenn es was zu erzählen gibt. Nehmen Sie Milch in Ihren Kaffee?«
»Danke, nein«, sagte ich irritiert. »Finn, bitte, das ist wichtig.« Ich zwang mich, ruhig zu bleiben, es war nicht Finns Schuld, sagte ich mir, nichts war Finns Schuld. »David hat das Haus am Morgen des zweiten Mai in einem roten Pulli und einer blauen Jeans verlassen.«
»Da ist ein … roter Pullover in der Wäsche gewesen?«, sagte Finns Mutter. »Und ich habe mich schon gefragt, wem der gehört?«
Finn baute etwas an seinem Legofahrzeug ab und an der anderen Seite wieder an.
»Na, kann sein, wir haben getauscht«, murmelte er.
»Getauscht?«
Finn schwieg einem Moment. Dann sah er plötzlich auf und sagte: »Ich weiß nicht, warum er an dem Tag nicht nach Hause ist. Die haben ihn ja gesucht, später, aber ich weiß nicht, warum er nicht in den Bus gestiegen ist. Ich weiß es echt nicht.«
»Du musst uns sagen, was passiert ist?«, sagte seine Mutter. »Das ist dir doch klar? Du schwindelst doch sonst nicht?«
»Himmel, jetzt lass ihn doch erst mal zu Ende reden«, sagte sein Vater.
»Ich schwindel nicht«, sagte Finn, den Blick wieder auf das Legoding gesenkt, an dem er ein weiteres Stück umbaute. »Es war nach Sport, wir haben uns umgezogen, und David hat seinen roten Pulli angeguckt und gesagt: ach nein. Oder so was. Ihm ist plötzlich irgendwas eingefallen, keine Ahnung, was, David ist ja immer plötzlich irgendwas eingefallen, das war bei dem so … Ach nein, hat er gesagt, und er ist ganz aufgeregt geworden und wollte dann mit mir Sachen tauschen. Ich hab das schon da nicht kapiert, aber es war ihm richtig wichtig, und er konnte ja auch ganz schön wütend werden, manchmal, ich hatte keine
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