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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Schattenriss vor einem hellen Mondhimmel, und sang unablässig weiter, ihr Gesang passte zur Süße der Luft und zu meiner kitschigen Melancholie.
    Ich würde mit David herkommen, dachte ich, ich würde mit ihm zusammen nachts spazieren gehen, oder, wenn er im Rollstuhl saß, ihn von mir aus schieben, denn diese Art von Nacht war die beste Umgebung zum Reden. Wie viel wir reden würden, wenn er wieder da wäre! Über alles und alles und alles.
    Ich dachte, dass ich auch gerne mit Thorsten Samstag durch diese Nacht gegangen wäre, und dass ich möglicherweise in Thorsten Samstag verliebt war, und dass das sich sehr kindisch anfühlte.
    Ich verließ die Nachtigall und ging langsam an der Reihe der Gräber entlang. Die meisten waren alt, manche uralt, so alt, dass niemand sich mehr an die erinnerte, die darin lagen. Ich fand, zu meinem Erstaunen, zwei ganz neue.
    Eines war das Grab der Marie. War sie demnach Christin gewesen? Getauft? Gerade die Marie? Im Mondlicht las ich voller Staunen, dass sie einen Nachnamen besessen hatte, Marie Lena Wilde. Maria Magdalena. Wie nah war die Bibel? Die Wege des Herrn sind unergründlich. Der einzig wahre Satz der Christenheit, dachte ich bitter.
    Das zweite neue Grab befand sich direkt daneben und stammte vom Oktober letzten Jahres. Der Name auf dem Stein sagte mir nichts. Hubert Trebelow, gestorben 72-jährig. Ruhe in Frieden, was genauso gut war wie gar kein Spruch, bedeutungslos. Ich hatte noch nie von einem Hubert Trebelow im Dorf gehört, aber das hieß nichts. Und auf einmal erinnerte ich mich an den Beginn der Paradieswerkstatt, an den obdachlosen Prinzen Siddharta und daran, wie David und Lotta so wie er einem alten, einem kranken und einem toten Menschen begegnet waren. Sie waren jemandem begegnet, der zu einer Beerdigung ging. Und ich hatte mich darüber gewundert, dass David nie erwähnt hatte, wer da beerdigt worden war. War es unwichtig gewesen? Aber nichts war für David unwichtig. Waren Lotta und er in Wirklichkeit damals umgekehrt und ebenfalls zu dieser Beerdigung gegangen, aus reiner Neugier, und erst später in den Wald? Das wäre es, was ich als Kind getan hätte, dachte ich. Ich schüttelte den Kopf, Hubert Trebelow passte nicht ins Bild, er kam nirgends vor, nicht einmal seine Abwesenheit kam vor in Davids Projektbericht. Seltsam.
    Schließlich ging ich weiter an den Reihen von Grabsteinen entlang – wie viele dieser Menschen hatten daran geglaubt, in einem Paradies zu erwachen, nachdem sie die Augen in diesem Leben zum letzten Mal geschlossen hatten? Wie viele hatten gezweifelt, wie viele waren verzweifelt am Leben und am Tod? Ich fragte mich, was ich glauben würde, im Moment meines Todes, irgendwann. Vermutlich, dachte ich, werde ich versuchen, trotz meines lebenslangen Unglaubens ganz schnell noch an etwas zu glauben, damit das Sterben nicht so trostlos ist.
    An ein Paradies aus grauen Kästchen.
    Auf einmal fror ich. Ich würde zurückgehen, mir einen heißen Tee kochen und weiterlesen. Es sah ganz danach aus, als wäre der zwölfte Eintrag der letzte in Davids geheimer Mappe.

    Ich zog mir einen Pullover und eine Hose über und setzte mich mit der Mappe aufs Sofa im Wohnzimmer, vor mir auf dem Boden eine jener Teetassen, in denen man einen Hund hätte baden können. Ich merkte erst, als ich die Ärmel des Pullovers hochschob, dass es nicht mein Pullover war, sondern einer von Claas. Aber in dem Moment, in dem ich das merkte, bemerkte ich noch etwas anderes.
    »Eintrag 12« stand in ganz normaler Schrift oben auf der nächsten Seite. Da war kein Code, keine Verschlüsselung. Warum war mir das eben nicht aufgefallen?
    Ich ließ meine Augen über die Seite gleiten und stellte voller Erstaunen fest, dass der ganze Eintrag 12 unverschlüsselt geschrieben war, genau wie Eintrag 1. Ich hätte ihn die ganze Zeit über lesen können, ich hätte nur bis ganz nach hinten blättern müssen.
    Für ein Datum hatte David diesmal keine Zeit oder keine Nerven gehabt.
Die ersten Sätze lauteten:

»Alles ist ganz anders, als ich dachte. Ich habe, um genau zu sein, völlig falsch gedacht. Lächerlich falsch. Wir fuhren nach Berlin …«

Der Hund landete neben mir auf dem Sofa, aber ich beachtete ihn nicht. Ich vergaß ihn in dem Moment, in dem er sich ein Nest in den Kissen machte. Ich vergaß den Pullover. Ich vergaß das Sofa. Ich saß wieder mit David im Auto, ich erinnerte mich genau, es hatte geregnet und Claas hatte über die Scheibenwischer geflucht, die nicht

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