Paradies für alle: Roman (German Edition)
richtig funktionierten …
Eintrag 12
Wir fuhren nach Berlin.
Ich saß hinten neben dem Gepäck; wir hatten Gepäck, weil wir für eine Nacht bleiben würden, Lovis hatte ein Treffen mit jemandem von einem Theater, für den sie ein abstraktes, grau-weißes Bühnenbild machte und mit dem sie eine Menge Sachen besprechen musste. Ich fragte mich, wie es wohl mit Lovis wäre, wenn das Paradies fertig war. Ob sie dann ab und zu die komischen Dinge für mich malen könnte, die ich mir manchmal vorstellte. Und ich fragte mich, wie es mit Claas werden würde und ob er häufiger da sein könnte und ob der Grund, aus dem er häufig nicht da ist, dann nicht mehr existieren würde. Dieses Problem, das mit Claas, das hatte ich nie auf die Liste geschrieben, denn das konnte ich nicht lösen. Es würde sich selbst lösen, im Paradies – als ich auf der Rückbank des Autos saß und alle anderen Probleme so gut wie gelöst hatte, war ich mir sicher.
Und dann fuhren wir nach Berlin hinein; es regnete immer noch, und es war eine Menge Verkehr auf den Straßen. Wir hielten an einer roten Ampel, und ein Mann kam angerannt und goss etwas wie Seife aus einer Flasche auf unsere Scheibe und holte einen Putzlumpen heraus, mitten im Regen, und fing an, die Scheibe zu putzen. Der Mann trug ein sehr altes schwarzes Regencape, das bei näherem Hinsehen kein Regencape war, sondern eine sehr große Tüte, in die er ein Loch für den Kopf geschnitten hatte. Seine Haare waren nassgeregnet wie eine Badekappe und die Bewegungen seiner dünnen Arme merkwürdig ausfahrend und eckig. Er putzte unsere Scheibe so schnell, dass keiner von uns überhaupt dazu kam, irgendetwas zu sagen. Die Scheibe war hinterher eigentlich nicht sauberer, sondern dreckiger, weil der Mann mit dem Seifenlappen die toten Mücken der letzten Tage zu seltsamen Schlieren verschmiert hatte, aber er klopfte ans Fenster und hielt seine Hand auf und machte irgendwelche Zeichen, und Claas fluchte wieder und gab ihm das Eurostück, das vorne griffbereit liegt, falls man es in einen Einkaufswagen stecken muss.
Dann fuhren wir weiter.
»Dass sie das jetzt auch in Berlin machen, was«, sagte Claas. »Ich kenne das nur aus Südamerika.«
»Immerhin besser, als wenn sie gar nichts machen«, sagte Lovis, »und nur betteln.«
»Na ja«, sagte Claas, »ich würde ihnen lieber Geld dafür geben, dass sie meine Scheibe in Ruhe lassen. Ich kann jetzt nur noch raten, wo wir hinfahren.«
Sie?
Ich drehte mich in meinem Sitz um und ließ meinen Blick durch den Regen wandern, durch die autoverstopften Straßen, durch die nasse Großstadtwelt. Und da sah ich sie.
Die ersten waren wie der Mann in der Nähe dieser einen Ampel unterwegs und putzten Autoscheiben, aber da waren mehr. Sie existierten nur vereinzelt im Menschengedränge, aber auf einmal war es, als leuchteten sie mir entgegen. Sie saßen vor Bäckereifenstern und auf Bürgersteigen, sie knieten auf Kissen und streckten den Passanten leere Pappbecher entgegen, sie durchsuchten Mülleimer, sie tranken Bier aus Flaschen in Supermarkteingängen und warteten an anderen Ampeln, warteten auf ein grünes Licht, auf besseres Wetter, auf jemanden, der niemals kam.
Die Unglücklichen. Die Elenden. Die Bettler und die Trinker, die Obdachlosen und die Schuhlosen, die Klumpfüßler und Irrblickenden. Je länger ich hinsah, je weiter wir fuhren, desto mehr wurden es. Es waren nicht nur die Armen. Ich sah auch andere unglückliche Menschen; ich sah einen Rollstuhlfahrer mit einer schweren Geldbörse, dem ein livrierter Hotelboy aus einem teuren Auto half. Ich sah einen Blinden in einem makellosen Anzug, dem der Anzug nicht half, zu sehen. Ich sah einen Mann mit Narben im Gesicht, ich sah eine sehr dünne Frau in einem Seidenkleid und Stöckelschuhen, deren gehetztes, verhärmtes Gesicht mich mehr erschreckte als tausend verwahrloste, dreckige Trainingsanzüge.
Sie waren überall.
Keine Liste konnte sie fassen, keine Ledermappe war dick genug, um ihre Geschichten und ihre privaten Höllen darin abzuheften. Nicht einmal Claas’ alte schwarze Schreibmaschine, dachte ich, hat genug Buchstaben, um dies niederzuschreiben. Warum nicht? Warum konnte man nicht allen helfen? Warum konnte man die Behinderten nicht enthindern und die Blinden sehend machen wie Jesus in der Bibel?
Ich hatte nicht weit genug gedacht. Ich hatte einfach nicht daran gedacht, dass die Welt größer war als unser Dorf und dass es da draußen noch mehr Ungerechtigkeit und Unglück gab. Den
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