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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Penner vor der Schule hatte ich noch bemerkt, aber schon dort, bei der Schule, hatte ich aufgehört, weiter nach Unglück zu suchen.
Ich kam mir unbeschreiblich dumm vor.
Bis wir bei unserem Hotel waren, hatte ich neun Leute in Rollstühlen, siebenundzwanzig Penner und ungefähr zweihundert Leute mit gehetzten, unglücklichen Gesichtern gesehen, neununddreißig Kinder, die zu dünne Kleider trugen trotz des kühlen Regens, drei Blinde, zweiundvierzig Bettler und eine überfahrene Katze.
Ich stieg aus dem Auto und brachte meinen Rucksack ins Hotelzimmer wie in Trance. Ich folgte Claas und Lovis zu der Bühnenbildbesprechung, ohne wirklich mitzubekommen, was besprochen wurde, ich aß mit ihnen in einem hübschen Straßencafé zu Mittag, ohne zu schmecken, was ich aß. Und es ging die ganze Zeit über weiter. Ich sah mehr und mehr und immer mehr unglückliche Menschen, überall, wo wir hinkamen, gab es neue Sorten von Unglück, und niemals, dachte ich, ließe sich von einer einzigen Person wie mir genügend Geld, Zeit und Liebe umverteilen, um das zu ändern.
Als Lovis einem Bettler, an dem wir vorbeikamen, Geld in seinen leeren Pappbecher legte, lachte ich beinahe, weil der Effekt so vernichtend gering war.
Am Abend gingen Lovis und Claas mit den Leuten vom Theater essen, aber ich sagte, ich hätte Kopfschmerzen und würde im Hotel bleiben. Lovis sah mich besorgt an und fragte, was los sei, ich hätte den ganzen Tag über ja fast kein Wort gesagt. Ich schüttelte nur den Kopf. »Bin vielleicht krank«, murmelte ich. »Werd mich ins Bett legen.«
Und als Claas die Tür hinter sich schloss, fragte ich mich, ob das das Erwachsene war, was er nicht gesagt hatte, als ich ihm von der Paradieswerkstatt erzählt hatte. Ob er mich daran erinnert hätte, dass es mehr gab als unser Dorf. Ich war so blind gewesen, blinder als die Blinden mit ihren Blindenhunden, unbeschreiblich unglaublich blind.
Ich warf mich auf das Hotelbett, mit dem Gesicht nach unten, und atmete lange in die Matratze und versuchte, ruhig zu werden. Ich wollte etwas zerschlagen, einen ganzen Schrank voll Geschirr, aber in dem Hotelzimmer gab es nur ein paar Plastik-Zahnputzbecher, und die zerbrachen nicht mal, als ich sie auf den Badezimmerfußboden schmiss. Es endete damit, dass ich mit den Fäusten auf den Hotelschreibtisch hämmerte, was nach einer Weile wenigstens weh tat.
Hatte Lotta es gewusst? Hatte Lotta die ganze Zeit über gewusst, wie lächerlich unsere Werkstatt war? Ich glaube nicht. Ich glaube, Lotta denkt noch viel weniger weit als ich. Und die Theorie mit der schiefen Ebene und der Murmel hat sie ohnehin nie ganz verstanden. Ich nahm den Hotelkugelschreiber und malte auf das Hotelnotizpapier neben dem Telefon einen schrägen Strich, eine Ebene, die über einem Kugelschreiberkringel lag wie eine Wippe. Ganz links malte ich eine sehr kleine Murmel darauf. Sie war nicht schwer, ich hatte mich getäuscht. Die schiefe Ebene war nur länger. Sie war so lang, dass das Notizpapier nicht ausreichte, um sie aufzumalen, sie ging einmal um die ganze Erde. Wir hatten die Murmel in die richtige Richtung geschoben, aber ein so verschwindend winziges Stück, dass sich die Ebene kaum bewegt hatte. Es war unmöglich, die Fünfzig-Prozent-Marke zu erreichen. Unmöglich, die Ebene zum Kippen zu bringen.
Unmöglich, das Paradies zu erschaffen.
Deshalb hatte dieser moderne Philosoph es nicht getan und keiner seiner Kollegen. Sie hatten es gewusst.
Ich rief Rosekast vom Hoteltelefon an und hoffte, dass er sein Telefon nicht zwischen der Unordnung im Wohnzimmer verlegt hatte.
»Hier … hier ist David«, sagte ich. Meine Stimme klang wie der Regen, der immer noch gegen die Hotelfenster schlug. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nach Berlin fahre … mit meinen Eltern. Rosekast … wo sind Sie?«
»Ich sitze auf unserer Bank«, sagte Rosekast, »wie immer. Und weißt du, was ich sehe, David?«
»Das Meer«, antwortete ich, doch dann dachte ich zum allerersten Mal darüber nach. »Nein. Nein, natürlich nicht«, sagte ich. »Das kommt geographisch nicht hin. Es ist ein See.«
Wir schwiegen eine Weile durch die Telefonleitung. »Ich habe es verstanden«, sagte ich schließlich. »Es war immer ein See … Ich dachte die ganze Zeit über, wir betrachten das Ganze. Dabei haben wir nur einen Teil betrachtet. Einen verschwindend geringen Teil.«
»Und was bedeutet das?«, fragte Rosekast, dessen Aufgabe es nur war, die richtigen Fragen zu stellen.
»Man kann das

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