Paradies für alle: Roman (German Edition)
nicht gefunden. Und schließlich dachte ich, gut, entweder versteckt er sich, oder er ist schon zu weit weg – entweder rufe ich jetzt die Polizei an, oder ich lasse ihn laufen. Er scheint ja zu wissen, wo er hinwill. Damals, als ich von zu Hause abgehauen bin, hat jemand die Polizei gerufen. Ich weiß noch, wie ich die Leute dafür gehasst habe. Also bin ich wieder in den Wagen gestiegen und weitergefahren. Nach Hamburg. Am nächsten Tag habe ich das mit dem Unfall gehört.«
Eine Weile war es still in der Küche.
»Das ist alles«, sagte Jarsen.
»Alles«, sagte ich.
Aber es erklärte nichts. Gar nichts. »Was hatte er an?«, fragte ich.
»Irgendwas Dunkles«, sagte Jarsen.
Ich nickte. Finns Kleider.
»Danke«, sagte ich, »danke, dass Sie gekommen sind.«
»Sie hassen mich«, sagte Jarsen. »Für alles. Dafür, dass ich ihn mitgenommen habe. Dafür, dass ich ihn habe aussteigen lassen. Dafür, dass ich nicht die Polizei gerufen habe. Sie hassen mich.«
»Soll ich nein sagen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich werde jetzt gehen. Wenn David wieder da ist, vielleicht … sagen Sie mir Bescheid?«
»Vielleicht«, sagte ich.
Nachdem Jarsen gegangen war, setzte ich mich an den Computer und sah nach, ob es den Laden für recycelte Babysachen noch gab, weil das etwas Sinnvolles war und weil ich nicht an David und nicht an Finns Kleider denken wollte. Natürlich dachte ich trotzdem daran. Die bunten Babysachen auf den Fotos, die ich fand, kamen mir abstrus vor, sie waren so voller Hoffnung.
Die Fotos und die abstruse Hoffnung hatten eine eigene Internetseite. Es gab den Laden noch. Er war nur zweimal in der Woche geöffnet, und die Lieferzeiten für bestellte Sachen hatten sich, las ich, verlängert, weil die Anfrage zu groß und die Schneiderin noch immer allein war. Allein und ökologisch recycelnd saß sie irgendwo und nähte und nähte. Vielleicht hatte auch sie jemanden verloren, vielleicht ein Baby, und deshalb war es so wichtig geworden, immer weiterzunähen.
Unsinn. Ich hatte David nicht verloren. Ich war dabei, ihn wiederzugewinnen. Ich war dabei, seine Liste abzuarbeiten. Die Frau in dem Babykleiderladen brauchte dringend Hilfe, entschied ich. Sie brauchte Celia, ich würde hingehen und sie davon überzeugen, dass sie sie brauchte, genauso, wie David sie überzeugt hätte.
Als ich so weit gekommen war, tauchte der Hund vor der Verandatür auf.
»Wo hast du Lotta gelassen?«, fragte ich. »Will sie mir nicht sagen, warum sie den Kopf geschüttelt hat, als ich weggefahren bin? Will sie nicht mit mir reden?«
Der Hund antwortete nicht. Er wollte auch nicht mit mir reden. Aber gegen Rühreier mit Speck hatte er nichts. Ich nahm den Hund und den Rest der Rühreier mit hinauf in mein Atelier.
Ich malte den ganzen Vormittag an dem Triptychon, Stunden um Stunden. Ich löschte den Löwenkopf aus der Mitte. Der Gott dort war wieder gesichtslos. Aslan hatte David nicht helfen können. Die Figur zur Linken saß jetzt in einem Rollstuhl. Die zur Rechten hielt das Lenkrad eines Autos. Irgendwann, dachte ich, hätte ich das Triptychon so oft übermalt, dass die Farbe von selbst stand, oder sie würde in großen Klumpen von der Leinwand bröckeln. Der gesichtslose Gott hielt eine Tafel Schokolade mit dem Preisschild einer Tankstelle in der einen Hand.
In der anderen hielt er eine braune Ledermappe, die auf der letzten Seite aufgeschlagen war. EINTRAG 13 stand dort, doch die eingeheftete Seite war leer.
Und schließlich nahm ich den Hund an seine provisorische Leine und ging über die Schafswiese zu den Weiden. Ich kletterte in die mittlere Weide hinauf, was den Hund verwunderte, und durchsuchte ihre Äste sehr gründlich. Da war kein gefaltetes Papier, auch nicht die verregneten Reste eines gefalteten Papiers. Ich ging zurück zum Haus und legte alles, was ich als Erinnerung an den zweiten Mai besaß, auf den Küchentisch: den zerfetzten dunkelgrauen Kapuzenpullover. Seine Taschen waren leer. Die schwarze Cordhose. Ihre Taschen waren leer. Den Schulrucksack, in dem es nur Schulbücher gab. Den Sportbeutel, der so ordentlich an der Garderobe gehangen hatte.
Im Sportbeutel befand sich außer dem Sportzeug nur Davids Brotdose. Ich öffnete sie, um den vielleicht verschimmelten Inhalt endlich wegzuwerfen; David hatte oft vergessen, sein Schulbrot zu essen.
In der Brotdose war kein verschimmeltes Brot. Darin lag eine Bibel. Taschenformat, Dünndruck.
Das dunkelrote Lesebändchen war auf der Seite eingelegt,
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