Paradies für alle: Roman (German Edition)
zurückkehrte, huschte etwas über meine Füße, und ich hätte beinahe geschrien. Doch es war nur eine Ratte. Sie blieb in der Ecke des Raumes sitzen und starrte mich aus ihren kleinen dunklen Augen an.
Mir war ein bisschen komisch zumute, und ich erstellte im Geist eine Liste an Gründen, weshalb man nicht in fremde Häuser gehen soll.
Erstens – viele Leute werden sehr sauer, wenn sie einen dabei erwischen.
Zweitens – es könnte sein, dass jemand Böses in dem Haus wohnt oder jemand, der verrückt ist und einen einschließt oder sonst etwas Schlimmes mit einem anstellt.
Drittens – es könnte etwas Gefährliches in den Häusern geben, zum Beispiel könnte ein Haus einsturzgefährdend sein, und dann würde man darunter begraben werden.
Als ich bei »drittens« angekommen war, sah ich die Terrassentür. Sie war mir nicht gleich aufgefallen, weil auch vor der Terrassentür ein Vorhang hing. Ich zog ihn beiseite und blinzelte, als helles Tageslicht hereinströmte. Draußen lag, terrassenlos, eine ungemähte Wiese, und dahinter begann das Meer.
Vier hohe Eichen unterteilten die Aussicht auf seine blaue Oberfläche in schmale Streifen wie ein modernes Bild, das Lovis vielleicht gefallen hätte. Mitten auf der Wiese jedoch, mitten auf einer Holzbank, saß ein Mann. Er saß mit dem Rücken zu mir.
Ich trat durch die Tür und ging langsam auf den Mann zu, und als ich fast bei ihm war, sagte er, ohne sich umzudrehen: »Hallo.«
»Wo – woher wissen Sie, dass ich da bin?«, stotterte ich.
»Na, man hört dich ja wohl durchs Gras trampeln«, sagte er, »bis drei Meilen hinter den Wind.«
»Ich wollte etwas fragen«, sagte ich. »Aber Sie haben vielleicht keine Zeit, etwas zu antworten?«
Wenn er nicht mal Zeit hatte, seine Küche zu putzen, dachte ich, hatte er entweder sehr viel zu tun oder tat überhaupt nie irgendwas.
»Na«, sagte der alte Mann, »setz dich mal. Man kann hier gut sitzen und aufs Wasser gucken, wenn man nachdenken muss.«
Da setzte ich mich zu ihm auf die Bank, ganz an den Rand, um nicht aufdringlich zu sein.
Sein Gesicht war verwittert, aber nicht unfreundlich. Er trug einen alten Strickpullover, einen Vollbart und diese Art Kapitänsmütze, die alte Männer manchmal tragen. Die Augen unter den buschigen Brauen hatte er ein wenig zusammengekniffen, als würde das Blau des Meeres ihn blenden. Ich schätzte ihn auf etwa so alt wie meinen Großvater plus zehn Jahre. Auf dem Diagramm mit Alter und Fältchen hätte er sich ganz nah bei der Kittelschürzenfrau befunden.
»Ich heiße David«, sagte ich. »Und Sie haben einen Brief vom Ottokatalog.«
»Sieh mal einer an«, sagte der alte Mann.
Er trennte seinen Blick keine Sekunde lang vom Meer, und schließlich hörte ich auf, ihn anzusehen, und sah auch aufs Meer hinaus – das in gestreifte Streifen geteilte Meer zwischen den Eichen. Und es war, als kämen wir uns ein Stück näher, weil wir beide auf das gleiche Meer hinaussahen. Und deshalb fragte ich einfach.
»Warum ist das Leiden so ungerecht verteilt?«, fragte ich. »Warum muss die Kittelschürzenfrau in ein Seniorenheim ziehen und andere Leute können einfach wohnen, wo sie wollen? Warum …«
»Halt«, sagte der alte Mann. »Ich will auch etwas fragen. Warum glaubst du, dass ich das weiß?«
Ich zuckte mit den Schultern. Ich hätte sagen können: »Ich wollte nur einfach irgendjemanden fragen, und Sie sind gerade da«, aber dann wäre er möglicherweise beleidigt gewesen, weil er nur irgendjemand war. Deshalb sagte ich: »Sie sehen so aus. Irgendwie … weise. Siddharta, über den ich einen Vortrag halten muss, der hat als Viertes einen weisen Mann getroffen. Den alten, den kranken und den toten habe ich schon, also wären Sie der Weise.«
»Sieh mal einer an«, sagte der alte Mann noch einmal. »Du beschäftigst dich mit Siddharta?«
»Ich muss einen Vortrag halten, in der Schule«, erklärte ich, »aber ich kenne mich nicht aus mit Religion, ich bin nämlich nichts Religiöses. Sind Sie etwas?«
»Ich war einmal Christ«, sagte der alte Mann.
»Wann haben Sie denn damit aufgehört?«, fragte ich.
Er seufzte. »Das ist lange her. Es ist schon komisch … ich war zweimal im Gefängnis wegen meines Glaubens. Und dann kam die Zeit, in der man glauben konnte, was man wollte, und ich habe den Glauben verloren.«
»Oh«, sagte ich. »In Ihrem Wohnzimmer, da hat jemand alle diese Bücher aus den Regalen genommen und etwas gesucht … Waren Sie das? Haben Sie nach dem verlorenen Glauben
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