Paradies für alle: Roman (German Edition)
ich eine andere Lovis Berek gewesen, eine irgendwie bessere Lovis. Verständnisvoller. Geduldiger. Eine Lovis, die den Zugang zu ihrem Sohn nie verloren hätte.
Ich schlug die Ledermappe zu, legte sie auf die Tastatur und bettete für einen Moment meinen müden Kopf darauf. Es hatte Stunden gedauert, den Text bis hierher zu entziffern, Buchstabe für Buchstabe. Ein paar Mal war eine der Schwestern hereingekommen, um etwas zu holen. Sonst hatte niemand mich gestört.
Ich schüttelte mich wie ein nasser Hund und stand auf. Ich brauchte eine Pause.
David war wirklich viel daran gelegen gewesen, sein Projekt geheim zu halten. Was, dachte ich, hatte er da nur angestellt?
Die Geschichte klang zunächst völlig harmlos. Er hatte versucht, ein paar Leuten zu helfen. Das war rührend, aber wenig spektakulär. War da noch etwas anderes, hatte er etwas geplant und durchgeführt, das jemandem tatsächlich gegen den Strich gegangen war? Genügend, um David beseitigen zu wollen?
Als ich die Tür des Lagers öffnete, stand ich Thorsten Samstag gegenüber. Er hatte eine Faust erhoben, und ich erschrak, ehe ich verstand, dass er im Begriff gewesen war, anzuklopfen. Er ließ die Hand sinken und lächelte verlegen.
»Ich wollte nachsehen, ob es Ihnen gutgeht«, sagte er.
»Ja«, sagte ich. »Es geht mir gut, danke.«
»Ich meine … wäre es sehr aufdringlich, wenn ich fragen würde, was Sie mit der Schreibmaschine tun?«
»Lesen«, antwortete ich.
»Sie lesen … mit einer Schreibmaschine?« Er schüttelte den Kopf, und sein Haar geriet durch das Schütteln noch mehr durcheinander, als es ohnehin schon war. »Möchten Sie einen Kaffee? Sie könnten mir dabei erzählen, weshalb Sie mit einer Schreibmaschine lesen.«
Er macht sich Sorgen, dachte ich. Thorsten Samstag, den ich überhaupt nicht kenne, macht sich Sorgen um mich. Auf professioneller Basis natürlich. Vielleicht fragte er sich, ob er mich an einen Psychologen weiterreichen sollte. Vielleicht geschah es häufiger, dass Angehörige schwer kranker Patienten durchdrehten.
»Sie haben gar keine Zeit für einen Kaffee«, sagte ich, während ich Samstag ins Arztzimmer folgte.
»Nein«, sagte er und rückte einen Stuhl für mich zurecht. »Setzen Sie sich.«
»Aber Ihre Patienten …«
»Ich bin eigentlich fertig hier. Ich habe die Station bereits an meinen Kollegen übergeben. Ich meine, im Grunde hat man nie Zeit, aber …« Er zuckte die Schultern. Ich verglich ihn im Geiste mit Claas, der auch nie Zeit hatte, mit dem ich aber selten Kaffee trank. Er sah ein wenig jünger aus als Claas. Seine Haare waren blond, aber dazwischen gab es welche, die hatten die gleiche Farbe wie Davids Haar, rotgold, und das versetzte mir einen Stich. Zum Glück waren seine Augen nicht grün. Sie waren, und das war wiederum irritierend, braun und blau, wie die Augen des Hundes, der auf der Veranda aufgetaucht war. Bei Samstag führte dieser Umstand dazu, dass man das Gefühl bekam, er schielte ein wenig, obwohl er das vermutlich nicht tat.
»Sie sollten nach Hause fahren, zu Ihrer Familie«, sagte ich. »Die warten sicher.«
»Nicht mehr«, sagte Samstag.
»Wie bitte?«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung, die beinahe die Kaffeebecher umstieß, in die er Instantpulver gefüllt hatte. »Erzählen Sie mir von der Schreibmaschine.«
»Es ist eine lange Geschichte. Aber ich glaube, ich bin erst an ihrem Anfang.«
Er goss heißes Wasser auf den Kaffee, schob mir einen Becher hin, setzte sich. Er strahlte etwas Beruhigendes aus. Vielleicht begann ich deshalb zu erzählen.
Und wie dankbar ich auf einmal war, erzählen zu dürfen!
Ich erzählte Thorsten Samstag, einem wildfremden Menschen, die Geschichte von David. Jeder Satz rief Erinnerungen hervor, und jede Erinnerung fühlte sich an wie eine warme Welle. Ich erzählte davon, wie David vor neun Jahren geboren worden war, den Kopf voll goldrotem Haar, wie er früher sprach als andere Kinder, aber später lief, wie er mit drei Jahren anfing, sich merkwürdige Projekte auszudenken – das allererste davon war es gewesen, die Bücher in unserem Bücherregal strikt nach Farbnuancen zu ordnen. Der Kaffee in meiner Tasse war kalt, als ich zu Siddharta und Lotta und dem Haus im Wald kam. Samstag hatte die ganze Zeit dagesessen und zugehört. Eine Ewigkeit. Ich merkte, dass ein Lächeln auf meinem Gesicht lag. Die Art Lächeln, die Verliebte haben, wenn sie voneinander erzählen.
Natürlich, ich war verliebt in meinen Sohn. Immer
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