Paradies für alle: Roman (German Edition)
gesucht?«
»Im weiteren Sinne«, sagte er. »Die meisten meiner Bücher haben allerdings mehr mit Philosophie zu tun. Mit Glauben kann man aufhören. Mit Denken nicht. Religion ist Ansichtssache. Philosophie ist absolut.«
»Philosophie ist absolut«, wiederholte ich.
»Deine Frage«, sagte er. »Warum manche Leute leiden und andere nicht. Es gibt mehrere Antworten darauf. Zum Beispiel: derjenige, der hinter allem steht, der große Verteiler des Leidens, bestraft die Menschen für etwas.«
»Oder«, sagte ich, weil mir plötzlich etwas einfiel, »der, der hinter allem steht, ist böse und macht sich einen Spaß daraus, Sachen ungerecht zu verteilen. Oder er ist dumm und merkt es nicht.«
Der alte Mann lachte leise. Sein Lachen klang wie das Geräusch des Windes in den Eichenblättern.
»Ja. Oder der, der hinter allem steht, prüft durch das Leiden die Menschen. Oder …«
»Oder?«
»Fällt dir nichts mehr ein?«
Ich dachte nach. »Nein.«
»Oder«, sagte er sehr langsam und bedächtig, »es gibt niemanden, der hinter allem steht. Das Leben ist eine große Lotterie. Die Verteilung des Leids erfolgt zufällig.«
»Und es gibt auch kein Paradies«, sagte ich, »das jemand, der hinter allem steht, geschaffen hat. Aber das ist doch schade, oder?«
Er nickte. »Ja«, sagte er. »Schade.«
»Ich … ich habe nämlich eine Liste gemacht, von allem, was es in meinem Paradies geben müsste. Eine mentole Liste, also, nur im Kopf. Ich kann sie Ihnen vorlesen.«
»Na, denn lies mal«, sagte der alte Mann, und ich las: Buchen, Regale, Fahrräder (für Lotta) …
Als ich fertig war, lachte der alte Mann wieder sein Eichenblatt-Wind-Lachen.
»Wenn man sich die Liste ansieht«, sagte er, »merkt man eine Sache: Alle diese Dinge gibt es schon.«
»Stimmt«, sagte ich, ein wenig erstaunt, »nur manchmal nicht an der richtigen Stelle, die Fahrräder zum Beispiel, die nicht bei Lotta im Garten stehen, sondern im Fahrradladen.«
Und dann schwiegen wir wieder eine Weile aufs Wasser hinaus.
»Man könnte das ja machen«, sagte ich schließlich. »Selbst.«
Und auf einmal wurde ich ganz aufgeregt. Ich sprang von der Bank auf.
»Man könnte das machen! Das Paradies! Hier! Im Leben! Das Leben ist ja alles, was man hat. Man muss nur … die Sachen … umverteilen! Gerechter verteilen! Das Leid an sich kann man ja nicht verteilen, aber andere Sachen … Geld zum Beispiel … Man könnte ein Paradies erschaffen, genau wie man es möchte, wenn man sich nur ein wenig anstrengt …«
»Das Paradies auf Erden«, sagte der alte Mann.
Es klang sehr feierlich.
»Ja«, sagte ich und bemühte mich, ebenfalls sehr feierlich zu klingen. »Das ist ungefähr das Gegenteil von dem, was Siddharta wollte. Er hat sich einfach damit abgefunden, dass alles Leben Leiden ist, und wollte möglichst schnell das Leben hinter sich lassen. Besser ist doch, das Leben zu verändern, dann braucht man auch das Nirwana nicht mehr.
Sie sind hiermit Zeuge der Gründung der
WERKSTATT ZUR VERBESSERUNG DER ALLGEMEINEN GERECHTIGKEIT.«
»Das ist ein sehr komplizierter Titel«, sagte der alte Mann.
»Ohne komplizierten Titel ist es keine richtige Werkstatt«, entschied ich und sah mich um. »Haben Sie zufällig Papier und Stift? Ich muss eine Liste machen.«
Ich wollte weiterlesen. Ich wollte die Liste lesen, und ich wollte wissen, was das für ein seltsamer alter Mann war, den David da aufgegabelt hatte. Wenn ich daran dachte, wie mein neunjähriger Sohn im dusteren Haus eines verschrobenen Alten herumtappte, wo Bibeln auf dem Boden verstreut lagen, wurde mir ein wenig komisch, und ich wollte eine Entwarnung lesen, ich wollte lesen, dass David nie wieder dorthin gegangen war oder dass eine adrett gekleidete Enkeltochter des alten Mannes aufgetaucht war, sauber gemacht und Kakao gekocht hatte.
Hatte dieser seltsame Alte etwas damit zu tun, dass mein Sohn vorgestern Abend fünfzig Kilometer von zu Hause entfernt auf der A 20 aufgetaucht war? Mein Sohn, der so altklug und gleichzeitig so kindlich naiv war, der über das Jenseits nachdachte und einfach in fremde Häuser ging? Ich wollte weiterlesen, aber ich konnte nicht.
Auf der nächsten Seite, unter der Überschrift »Eintrag 3«, hatte David das System gewechselt. Meine Fingerverschiebung auf der Schreibmaschine war nicht länger die richtige.
»Das Paradies auf Erden«, murmelte ich. Es klang so schön. Wie ein Bild, das ich malen wollte. Wie ein Ort, an dem ich sein wollte. Im Paradies auf Erden, dachte ich, wäre
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