Paradies für alle: Roman (German Edition)
der immer wieder zerbrochenen Krone der Weide.
»Das ist verrückt«, flüsterte ich. »Ein Kind, das nachts Kopfstand in einer Weide macht?«
Vielleicht konnte sie nicht schlafen, genau wie ich, weil sie an David dachte. Vielleicht hatte sie die Idee von ihm, vielleicht hatte es zu irgendeinem von Davids Projekten gehört, Kopfstand in Weiden zu machen.
Falls sie mich sieht, dachte ich, sieht sie mich so umgekehrt wie ich sie. Von Lotta aus betrachtet war ich es, die Kopfstand machte. Es war eine Frage der Perspektive.
Und plötzlich wusste ich, was ich tun musste. Ich schloss das Fenster, holte die Projektmappe, setzte mich damit vor Davids Tisch und drehte die schwere Schreibmaschine um.
Ich griff über das eingespannte leere Papier und legte meine Finger auf die Tasten, umgekehrt wie Lotta in der Weide.
»Das ist verrückt«, flüsterte ich noch einmal. »Absolut verrückt.«
Dann machte ich Davids Schreibtischlampe an und schlug den Projektbericht bei EINTRAG 3 auf.
Und meine Finger begannen, die Tasten zu berühren, die David gedrückt hatte.
Werkstattbericht – Eintrag 3
19. 10. 2011
Liste der Leute, denen geholfen werden muss, um ein Paradies auf Erden zu schaffen
Die Kittelschürzenfrau – umverteilen: Kraft
Herr Wenter – umverteilen: Medizin?
21. 10. 2011
Ergänzung zur Liste vom 19.:
Tielows Hund – umverteilen: Den Hund.
30. 10. 2011
Es ist jetzt zwei Wochen her, seit ich die Werkstatt zur Verbesserung der Allgemeinen Gerechtigkeit gegründet habe. Wir hatten in der Zwischenzeit sehr viel zu tun.
Es begann mit der Liste, die ich vor zwei Wochen geschrieben habe, zuerst auf einen Zettel bei Herrn Rosekast, und dann zu Hause noch einmal auf der Schreibmaschine, für den Bericht.
Falls Sie das nicht wissen: Herr Rosekast ist der alte Mann mit dem kleinen Haus im Wald. Ich habe ihn nämlich gefragt, wie er heißt. Das Klingelschild konnte man nicht mehr lesen. Ich habe es für ihn nachgemalt, für den Briefträger vom Ottokatalog.
Ich habe Lotta von der Werkstatt erzählt.
Lotta hört mir immer zu, vielleicht sogar zu sehr. Manchmal glaube ich, sie wartet den ganzen Tag darauf, dass ich aus der Schule nach Hause komme und auf die Veranda hinausgehe, damit sie mir zuhören kann.
»Wenn du diese Werkstatt machst«, sagte sie, »kann ich dann auch diese Werkstatt machen?«
»Von mir aus«, sagte ich. »Du kannst meine erste Assistentin sein.«
Die erste Sache, bei der Lotta assistentiert hat, war das Ernten von Frau Hemkes Kürbissen. Frau Hemke heißt die Kittelschürzenfrau, was wir jetzt wissen, weil wir sie gefragt haben, so wie Herrn Rosekast. Man findet eine Menge Dinge heraus, wenn man die Leute einfach fragt, und es ist erstaunlich, dass die Leute sich für gewöhnlich so wenig fragen.
Ich habe Frau Hemke die Werkstatt erklärt, und dass es darum geht, ein Paradies zu schaffen, aber sie hat nur immer wieder den Kopf geschüttelt und gemurmelt: »Ach nein so was, nein so was.« Es dauerte, bis wir sie so weit hatten, dass sie uns im Garten erklärte, was gemacht werden musste.
»Wenn Ihr Sohn sieht, dass Sie alles noch selber können«, sagte ich, »dann will er sicher nicht mehr, dass Sie ausziehen. Wir verteilen Dinge um, verstehen Sie, und was wir hier umverteilen, ist Kraft, oder vielleicht Beweglichkeit? Weil Lotta und ich zu viel davon haben, und Sie zu wenig, und es ist also gerechter, wenn wir Ihnen im Garten helfen.«
»So was«, sagte Frau Hemke noch einmal.
Herr Wenter ist schwieriger. Wir haben angefangen, ihm Dinge zu schicken, indem wir sie in seinen Briefkasten stecken. In unserem Bad haben wir eine Schachtel mit Medikamenten, und ich habe nachgesehen, welche davon gegen Husten helfen, was nicht leicht ist. Ich saß zwei ganze Tage auf der Weide bei der Schafswiese und las Beipackzettel, wovon man wegen der kleinen Schrift Kopfschmerzen bekommt. Manche Beipackzettel las ich Lotta vor, und Lotta sagte, sie würde schon vom Zuhören Kopfschmerzen bekommen.
Schließlich fand ich eine Flasche Hustensaft, die gegen Husten war, und eine Packung Tabletten, und wir steckten beides in Herrn Wenters Briefkasten. Aber damit er der Medizin vertraut, mussten wir noch mehr Sachen schicken, in Umschlägen.
Liste der Umschläge, die wir Herrn Wenter bisher geschickt haben:
Umschlag:
Inhalt:
DIN A 4, weiß, gebraucht
Ärzteblatt, Oktoberausgabe
(von Claas, er liest es nie)
DIN A 5, rot, gebraucht (von alter Grußkarte)
1 Packung
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