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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Regal zwischen Akten und Papierstapeln, dann hielt er mir eine Plastiktüte entgegen.
    Ich hatte Angst vor dem, was ich darin finden würde: blutverkrustete Fetzen, Zeugnisse dessen, was auf der Autobahn geschehen war. Dennoch zwang ich mich, das Stoffbündel herauszunehmen.
    Die Jeans, sorgsam zusammengerollt, war an den Knien eingerissen und schwarz vor Dreck. Nein. Sie war nicht schwarz vor Dreck. Sie war schwarz. Es war auch keine Jeans. Es war eine Cordhose. Ich entfaltete den zerrissenen Pullover. Er war grau und hatte eine Kapuze.
    »Das«, sagte ich langsam, »sind nicht Davids Sachen.«
    »Doch«, sagte Samstag. »In diesen Sachen ist er bei uns eingeliefert worden.«
    Ich merkte, wie mir schwindelig wurde. Ich zwang mich, mich nirgends festzuhalten. Ich rannte den Flur entlang, ehe er noch etwas sagen konnte.
    Denn für einen unsinnigen und goldenen Moment dachte ich: Es ist alles ein großes Missverständnis, es war gar nicht David, der diesen Autounfall hatte, natürlich nicht, was sollte er auch da, auf der A 20, so weit weg von zu Hause? Der, der hier liegt, ist jemand ganz anderer. David ist immer noch verschwunden, er ist immer noch da draußen, irgendwo, aber er hatte nie einen Unfall.
    Dann stand ich vor dem Bett, vor dem weißen Oval des Kindergesichts mit den geschlossenen Augen und den blondroten Haarsträhnen.
    Natürlich war es David.
    Niemand kann dein Kind so sehr eingipsen und bandagieren, dass du es als Mutter nicht mehr erkennst. Der goldene Moment der Hoffnung war vorüber, und ich fiel zurück in eine Dunkelheit, die noch dunkler war als die Dunkelheit zuvor.
    David hatte das Haus am Morgen des zweiten Mai in einem grün-rot-gestreiften Sweatshirt und Bluejeans verlassen und war am Abend fünfzig Kilometer weit entfernt auf der Autobahn aufgetaucht, in einem grauen Pullover und einer schwarzen Cordhose, die ich noch nie gesehen hatte.
    Die Dinge wurden nicht wirklich klarer.

3.
    Der Wald war natürlich ein anderer Wald als im Oktober.
    Ich blieb stehen und sah in die zartgrünen Äste empor. Hatte David so dagestanden und in die Äste emporgesehen? Hatte der sandige Waldboden seine Fußabdrücke getragen, wie er jetzt die meinen trug? Der Wind würde sie verwischen, wie er Davids Abdrücke verwischt hatte. Der Wind verwischte alles.
    Ich war spät nach Hause gekommen, später als Claas, und zu ihm ins Bett geschlüpft, ohne ihn zu wecken. Und heute Morgen hatte ich den Entschluss gefasst, den alten Mann im Wald zu suchen. Claas war schon fort gewesen, als ich aufgestanden war, ich hatte nur seine benutzte Kaffeetasse in der Spüle gefunden.
    Ich hielt den Blick auf den Boden gerichtet, auf der Suche nach dem Abdruck eines Kinderschuhs, obwohl ich wusste, dass ich keinen finden würde. Und irgendwann kam die unweigerliche Weggabelung. Die Hütte des Alten lag am Meer, also wählte ich den Pfad, der grob in Richtung Meer führte. Ich wanderte lange, und die Vögel sangen hoch oben in den Zweigen hell und spöttisch, als machten sie sich lustig über die Gestalt, die da unter ihnen über den Waldboden ging und von nichts eine Ahnung hatte.
    Schließlich sagte jemand vor mir »oh«, und ich erschrak und sah auf. Es war die einsame Spaziergängerin. Es war seltsam, sie von nahem zu sehen, ich hatte irgendwie geglaubt, es gäbe sie nur von Ferne. Ich sah sie stets von Ferne über die Felder gehen, und manchmal, vom Auto aus, sah ich sie in ihrem Garten sitzen: einem sehr schönen, aber eben auch sehr fernen Garten, einem seltsam entrückten Stück Welt.
    »Gehen Sie auch spazieren?«, fragte die einsame Spaziergängerin und strich sich ihr langes schwarzes Haar hinter die Ohren. Sie war – von nahem – jünger, als ich gedacht hatte. Jünger als ich.
    »Spazieren … ja«, sagte ich. »Eigentlich … suche ich jemanden.«
    »Ich auch«, sagte die einsame Spaziergängerin. »Ich suche auch jemanden.« Und dann seufzte sie und lächelte mich an, auf eine traurige Art, und ging an mir vorbei.
    »Wie – wen?«, fragte ich. Aber da war sie schon um eine Wegbiegung verschwunden. Ich schüttelte den Kopf und ging weiter.
    Und plötzlich dachte ich an Claas.
    Es war ein Tag im Wald gewesen, an dem ich ihm zum ersten Mal begegnet war. Nicht in diesem Wald, in einem anderen. Ich hatte auf einer Lichtung gestanden, mit meiner Staffelei. Das Licht war schräg von oben eingefallen, Mücken hatten darin getanzt, und um mich war der Sommer zu einem Chaos aus Grün explodiert. Ich weiß noch, wie ich

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