Paradies für alle: Roman (German Edition)
manisch immer mehr Grüntöne mischte – an diesem einen, besonderen Tag gab es kein Grau auf meiner Palette – und dass die Mücken ohne jeglichen Sinn für Romantik meine Beine zerstachen, und dass ich zu wenig Wasser mitgenommen hatte, zum Trinken und zum Anmischen der Farben. So fand Claas mich, besser gesagt, er stolperte über mich, stolperte auf die Lichtung hinaus, geblendet von der plötzlichen Helligkeit nach den Schatten des Waldes.
Er hatte eine Wasserflasche.
Er stand damals kurz vor der Facharztprüfung und hatte ein paar kostbare Tage klinikfrei, um sich vorzubereiten. Er sagte, am besten könnte er lernen, wenn er dabei umherlief, und als er mich traf, wiederholte er schon seit Stunden die gleichen unsinnigen medizinischen Fakten und Tabellen.
Wir teilten das Wasser aus der Flasche. Ich zeigte ihm, was ich malte. Er erkannte nichts.
Wir heirateten ein halbes Jahr später.
Am Anfang hatten wir die Gegensätze unserer Welten romantisch gefunden. Ich hatte seine medizinischen Fachbegriffe genauso wenig begriffen wie er meine Abstraktionen. Aber irgendwann hatte ich begonnen, zu hoffen, dass Claas doch eines Tages etwas auf meinen Bildern erkannte. Dass er plötzlich aufsprang und sagte: Jetzt weiß ich es, Lovis, jetzt weiß ich, was du sagen willst …
Aber er hatte die Bilder nie zu lesen gelernt, genauso wenig wie ich die Ultraschallbilder aus der Klinik. Und irgendwann hatten wir es aufgegeben, uns gegenseitig Dinge zu erklären.
Das Grün und die Natur hatte ich im Übrigen lange überwunden. Oder die Natur hatte mich überwunden; sie hatte mich hinausgeworfen. Geh malen, hatte sie gesagt, geh in dein Atelier, Kind, und träum deine abstrakten Träume. Wir kommen ohne dich zurecht. Und Claas in seiner Klinik kommt ohne dich zurecht, und David auch, so gut, dass er dir nichts mehr erzählt, nicht mal von seiner Werkstatt zur Verbesserung der Allgemeinen Gerechtigkeit.
Der Weg stieß hier auf den Deich, das Meer lag blau vor mir, aber da war kein altes Haus mit einem Blechdach. Ich setzte mich ins Gras, stützte den Kopf in die Hände und versuchte zu weinen. Aber es gelang mir nicht. Ich hatte auch das Weinen überwunden.
In meiner Jackentasche fand ich einen alten Zettel und einen Faserschreiber, und ich schrieb auf den Zettel:
Liste der Gründe, aus denen ich mir selbst leidtue:
Ich finde das Haus des Alten nie; der Wald ist viel zu groß.
Meine Malerei ist Unsinn.
Mein Sohn liegt im Koma.
Mein Mann liebt mich nicht mehr.
Dann strich ich den letzten Satz durch und schrieb darunter: Ich liebe meinen Mann nicht mehr.
Und dann faltete ich den Zettel, so oft, bis er ein kleines, hartes Päckchen war, stand auf und schleuderte ihn hinaus ins Schilf. Und ich ging zurück, denn die Wege im Wald waren zu viele, und es machte keinen Sinn, weiter nach dem Haus mit dem Blechdach zu suchen.
Ich versuchte wieder, mir den grüngoldenen Tag ins Gedächtnis zu rufen, an dem ich Claas zum ersten Mal begegnet war. Zu fühlen, was ich damals gefühlt hatte. Es gelang mir nicht. Wenn ich jetzt an Claas dachte, sah ich nur den schlafenden Schatten neben mir, spürte eine müde Hand auf der Schulter, die zu erschöpft war, um zu trösten. Vielleicht hatte ich einmal geliebt, aber die Liebe war mir entglitten, hatte sich langsam und lautlos davongeschlichen. Ich hatte sie verloren, so wie ich David verloren hatte.
Als ich den Wald verließ, war es bereits später Nachmittag.
Auf dem Weg durch die Felder kam mir ein schwarzer Jeep entgegen, und ich dachte an Siddhartas Leichenzug. Aber es war nur der Jeep von Herrn Jarsen. Einen Moment lang dachte ich, da säße noch jemand in Jarsens Jeep, hinten, aber als er vorüberfuhr, sah niemand aus dem hinteren Fenster. Ich musste mich getäuscht haben.
Ich drehte mich um und sah dem Jeep nach, wie er vor dem Wald nach rechts auf den Schotterweg einbog, der ein Stück an den Bäumen entlangführte, weg vom Meer, bis er vor einem eisernen Tor endete. Dahinter strahlte hinter sorgfältig gepflegten kanadischen Ahornbäumen das Gelb der Gutshausmauern. Jarsen lebte alleine dort, seine Frau hatte ihn vor zehn Jahren verlassen. Sie war zu jung und zu hübsch gewesen für das Leben in einem alten Gutshaus am Wald, sagten die Leute, sie war wohl zurück in die Stadt gegangen oder ins Ausland. Sie war Schauspielerin gewesen. Er trauerte ihr immer noch nach. Sagten die Leute.
Mich interessierte nicht, was die Leute sagten.
Früher, als ich ein Kind gewesen war
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