Paradies für alle: Roman (German Edition)
willst es also auch wissen«, sagte ich. »Was passiert ist. Ich dachte … dass du denkst, es wäre egal, was passiert ist. Weil es nichts an dem Zustand ändert, in dem er jetzt ist.«
»Es ändert nichts. Aber es liegt in der Natur des Menschen, Dinge wissen zu wollen.«
»Hoch philosophisch.« Ich trank meinen Kaffee aus. »Rosekast?«
»Wie bitte?«
»Sagt dir der Name etwas? Rosekast?«
»Nein. Wer ist das? Ein Philosoph?«
Ich schob meinen Stuhl zurück. »Vielleicht.«
Jetzt, dachte ich, könntest du es ihm erzählen. Alles. Jetzt könntest du versuchen, mit ihm über die wirklich wichtigen Dinge zu reden … Es ging nicht. Die Mauer, die zwischen uns existierte, war zu hoch. »Ich muss los«, sagte ich.
»Warte!«, sagte Claas. »Lovis! Wohin musst du denn?«
»Es liegt in der Natur des Menschen, loszumüssen«, sagte ich. Draußen schlüpfte ich in meine Schuhe, doch dann steckte ich meinen Kopf noch einmal durch die Küchentür. »Claas? Es … tut mir leid.«
»Was denn? Was tut dir leid? Du sprichst in Rätseln.«
Dass ich dir nichts erklären kann, Claas. Dass wir uns so weit voneinander entfernt haben. Dass ich jetzt gehe, obwohl du dir Zeit für einen Kaffee genommen hast. Obwohl du gestern bei David warst, der dir also doch nicht gleichgültig ist.
Ich sagte nichts von alledem. Ich schüttelte nur den Kopf und trat hinaus in den Morgen.
Am Auto lehnte Lotta und kaute Kaugummi wie gewöhnlich.
»Hallo«, sagte sie. »Kann ich mitkommen?«
4.
Der Rucksack hing genauso ordentlich an seinem Haken, wie Claas respektive Peter gesagt hatte.
Es brach mir das Herz, ihn dort hängen zu sehen, den blauen Rucksack neben dem roten Sportbeutel, an hellhölzernen Haken – eine Idylle.
Es war halb neun, hinter den Klassenzimmertüren herrschte leises Gemurmel, ab und zu anschwellend zu einem Stimmengewirr. Montessorischule, dachte ich, kein Frontalunterricht. Jeder arbeitete mit den Materialien, die er gerade fand. Oder so ähnlich. Wiesenkräuter standen, mit krakeligen Kinderbuchstaben beschriftet, in kleinen Glasröhren in einem Holzständer. Eine Buntpapierraupe mit einer Reihe aufgeklebter Klassenfahrtfotos krabbelte an der Wand entlang.
»Da ist David«, sagte Lotta und zeigte.
Ich nickte. Das Foto auf der Raupe zeigte Peter, Finn und ihn, die bis zu den Knien im Meer standen und dem Betrachter wilde grüne Bärte aus Algen und Blasentang präsentierten. Hier, zwischen Fotos und Buntpapier, war die Welt noch in Ordnung.
Ich versuchte, mich an meine Schule zu erinnern. Sie war grau gewesen und eckig. Dennoch hatte es meine Lehrer gewundert, dass ich begonnen hatte, graue Kästchen zu malen. Die anderen Kinder hatte es auch gewundert. Sie hatten mich ausgelacht, weil es einfacher ist, jemanden auszulachen, als ihn zu verstehen.
Zu Beginn, als David in die Schule gekommen war, hatte ich Angst gehabt, sie würden ihn genauso auslachen wie mich, weil auch er anders war als die anderen. Sie hatten nie gelacht. Im Gegensatz zu mir besaß David die erstaunliche Fähigkeit, zu normalen Leuten normal und für sich alleine besonders zu sein. Die Fähigkeit, Freunde zu haben.
»Hast du eigentlich keine Schule heute?«, fragte ich. Ich hatte Lotta einfach im Auto mitgenommen, weil es keine Alternative zu geben schien. Bisher hatte sie nicht viel gesagt. Eigentlich gar nichts, bis auf: »Da ist David.« Nur ihre blauen Kinderaugen fixierten mich ab und zu in einer Mischung aus Allwissen und allumfassender Frage.
»Nee«, sagte sie jetzt. »Heute nicht.«
»Wieso?«, fragte ich.
»Weil ich nicht hingehe«, sagte Lotta. Das schien logisch. Ich wollte etwas darüber sagen, dass man zur Schule gehen musste, aber ich ließ es.
Ich griff in den Sportbeutel und legte Davids Sachen auf die Bank unter der Garderobe: Turnschuhe, eine Jogginghose, ein T-Shirt mit einem Aufdruck der Wilden Kerle. Sonst nichts. In dem blauen Rucksack waren Bücher und Hefte, ein Stiftemäppchen, eine Brotdose, in der ich das Gewicht eines unangetasteten Schulbrotes fand. Ich öffnete die Dose nicht, ich wollte kein verschimmeltes Käsebrot sehen, das ich für David geschmiert hatte, in einer sehr nahen Vergangenheit, in der man noch Käsebrote für David schmieren konnte. In der man noch mit ihm hätte reden können. Darüber, weshalb er in der letzten Zeit seltsam gewesen war, seltsamer als sonst.
Da war kein rot-grün-gestreiftes Lieblings-Sweatshirt. Keine Jeans. Hatte er diese Sachen noch getragen, als er die Schule
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